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8. Juni 2001

Brauchen wir heute noch Utopien?

Der Utopie – Gedanke könnte helfen, Orientierungsmarken zu finden, den plausiblen Ursprung für Alternativen, Maßstäbe für Bewertungen /
Von Gert Breitenbürger


Es ist ganz ausgeschlossen, dass die Bewohner der ehemaligen DDR, als sie den Westen zum ersten Mal in Augenschein nahmen, auch nur hofften, das leibhaftige Utopia zu betreten. Gerade sie wussten ja aus Erfahrung, dass Utopia mit „Nirgendort" zu übersetzen ist. Mit ihrem geschärften Sensorium für die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis war ihnen dieser Begriff einer versprochenen Gesellschaft längst verdächtig geworden. Aber die beim ersten Ansturm uferlos erscheinende Fülle stets genüsslich genannter Südfrüchte und veredelter Torten legte doch die Hoffnung nahe, so etwas wie ein Schlaraffenland zu entdecken. -

In der Zeit von 1750 bis 1950 erschienen nicht weniger als 2756 Utopien im deutschsprachigen Raum. Sie wirkten vor allem mit ihren idealen Gegenbildern zu den sozialen, politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der eigenen Zeit. In diesem hochbewerteten und für die Wirklichkeit unerreichbaren Ziel liegt einmal die Idealität der Utopie und zum anderen der Wunsch, sie zu realisieren. - Thomas Morus prägte mit seiner „Utopia" von 1516 den Namen der Gattung, und er gab für die Utopien, die in den folgenden Jahrhunderten erschienen und die zu den meist gelesenen gehörten, die bevorzugte Wirtschaftsform vor: den Kommunismus – alles gehört allen -, in dem auch die sozialen und rechtlichen Probleme ideal gelöst sind. – Karl Marx und Friedrich Engels bezeichnen diese Utopien als Ausdruck eines „utopischen Sozialismus und Kommunismus", dem wesentliche Elemente eines „wissenschaftlichen Sozialismus" fehlen, wie sie ihn entwickeln, und wie er als „konkrete Utopie" später verstanden und bezeichnet wurde. – Der „neue Mensch", den das zentralgesteuerte, planwirtschaftliche System fordert, um funktionieren zu können, wurde auch „homo sovieticus" genannt, eine idealtypische Abstraktion, die alle Eigenschaften bündelt, die von den Menschen dieses Systems erwartet werden müssen. Sie steht im Kontrast zu dem Modell, das die Nationalökonomie entworfen hat, zum „homo oeconomicus". Das Wesen dieser gedanklichen Konstruktion ist die Annahme durchgehend zweckrationalen Handelns. Der „homo sovieticus" seinerseits hat ein unerschütterliches Fundament, nämlich die Annahme, gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln zu besitzen, mit der daraus abgeleiteten Motivation, für den Gemeinnutz, nicht für den Eigennutz zu arbeiten. Wenn das kommunistische System funktionieren soll, muss auch dieses Ideal verwirklicht sein. Oder anders: In dem Maße, wie dieser Anspruch nicht eingelöst wird, scheitert das System. W. I. Lenin war fassungslos, als er sah, dass nach subjektiv gelungener Planung Apparat und Gesamtsystem sich fehlerhaft entwickelten. Nichterfüllen der Pläne hatte fatale Folgen für die Bevölkerung. Das machte die Schärfe seiner Reaktionen verständlich. Denn der „homo sovieticus", der „neue Mensch" versagte völlig: „Es gibt keine Arbeiter, es gibt nur noch Gesindel." (Lenin, 1921).– Beim „homo oeconomicus" ist es gerade umgekehrt. In dem Maße, wie er offen ist gegenüber exogenen Daten (Umver¬teilung, Subvention, Sozial-politik), hört er auf, eine ideale Abstraktion zu sein und nähert sich einem funktionsfähigen Wirtschaftstyp „mit menschlichen Zügen". Aber wäre er als Inbegriff reiner Zweckrationalität in der Wirklichkeit „real handelnd" anzutreffen, wäre er natürlich der Untergang jeder Kultur und Utopie. M. Horkheimer und Th. W. Adorno benutzen ihn in ihrer „Dialektik der Aufklärung", um das Scheitern der Utopie der Aufklärung, wie das 18. Jahrhundert sie konzipierte, zu charakterisieren. Damit haben beide Idealtypen, der „ökonomische" und der „sowjetische Mensch", letzterer in seiner spezifischen Fehlerhaftigkeit, einen rasanten Abstieg aus den Höhen der Utopie bzw. der idealen Zweckrationalität in die Katastrophe realisiert: Der eine in die Wirklichkeit seines materiellen Scheiterns (ursprünglich dem Kapitalismus zugedacht), der andere, weil man sagt: jeder Unternehmer ein rein zweckrationaler „homo oeconomicus". Seine Katastrophe heißt dann „Kulturindustrie" und völlige „Entzauberung", sofern man Horkheimer und Adorno in ihrer pointierten Kritik folgen will.

Die Konzeption eines „neuen Menschen" des Sowjetkommunismus ging unter im „Gulag" und der Chinas im „Lao-Gai"- System, wo allein, nach inoffiziellen Schätzungen, 50 Millionen Menschen „umerzogen" wurden.

Abstinenz von jeder holistischen Utopie liegt nach diesen Erfahrungen nahe. Selbst in Form einer Utopie dargeboten, empfiehlt der Brite Julian Barnes ("A History of the World in 10 ½ Chapters", 1989) mit einer Paradiesvorstellung auf trivi¬alem Niveau den Abschied von jeder utopischen Glücksvorstellung. – Oder aber der Hebel wird angesetzt, der mit der gewohnten Zuverlässigkeit der Naturwissenschaften Erfolg verspricht und die Bewohner Utopias manipulieren soll. Es wurden schon Politiken damit begründet: In den 70er Jahren meinte B. F. Skinner, mit seiner extremen Milieutheorie den Menschen so konditionieren zu können, dass „richtiges" Verhalten eines utopischen Menschen erzielt wird. - Verhaltensforscher wie W. Wickler ("Biologie der zehn Gebote", 1971) betonten dagegen die genetisch bedingte Disposition des Menschen für Verhalten und Moral. Der Mensch wird von der Natur „programmiert". Eine Generation später knüpfen an dieser Aus¬gangslage zwei Utopie¬ansätze an, die verschiedener nicht sein konnten: Das „Projekt Weltethos" von Hans Küng und die „Anthropotechnologie" von Peter Sloterdejk. - Hans Küng zitiert die Goldene Regel ("Was du nicht willst...") und fünf moralische Gebote, die bei allen Menschen vorausgesetzt werden können. Damit benutzt er deckungsgleich eben die genetischen Dispositionen, die Wickler aus Sicht der Verhaltens-forschung annimmt. Allerdings nennt Küng als ihren Urgrund Gott ("Theo-nomie", die die Autonomie des Menschen aber intakt lässt). Sie erlauben es, so muss gefolgert werden, den Aufwand an Erziehung als überschaubar einzuschätzen. Das utopische Ziel bietet sich somit als realisierbar an. Sind die genetischen Anlagen für die Moral aber nicht ein¬deutig über spezifische Auslösemechanismen, wie I. Eibl-Eibesfeldt schon früher kritisch feststellte, ansprechbar, ist schließlich doch mehr Erziehungsaufwand nötig. Es bleibt dann die Frage, ob im globalen Maßstab ("Weltethos") leichter moralisches Verhalten erreicht werden kann als in jeder wohlmeinenden Familie schon jetzt. - Der zweite radikale Ansatz, den Menschen zu verändern, extrapoliert den aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand. Im „evolutionäre(n) Horizont" sieht Peter Sloterdejk „eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringen", als Fortschritt zu dem, was Christentum und Humanismus nicht geschafft haben: den „neuen Menschen". Seine Natur wird auf technischem Weg so mit den Mitteln der positiven Eugenik geliftet, dass er das Tier-Mensch-über¬gangsfeld a tempo überquert. Genetiker verneinen diese Möglichkeit. Abgesehen davon stört es Sloterdejk nicht, dass mit einer hohen Einschätzung des Genetischen die Kulturgeschichte des Menschen nicht nur als von seiner Natur, sondern auch noch von seiner Naturwissenschaft abhängig gedacht werden muss. Die hier liegende Heteronomie wäre das Gegenteil von dem, was (hoffentlich) nicht aufgegeben werden sollte: der selbstbestimmte Mensch. – Die langfristig zu befürchtenden Konsequenzen sind passgenau in der Antiutopie L. M. Silvers ("Remaking Eden", 1998) dargestellt worden.

Die Postmoderne rückt ab von der „Obsession der Totalität" (J.-F. Lyotard) und damit von jeder holistischen Konzeption von Utopie. Sie findet sie im Partikularen, auf dem Weg zum „Nirgendwohin" (G. Vattimo). Die Sorge, bestimmendes Motiv für die früheren Utopieentwürfe, verflüchtigt sich im „Don't worry be happy". - Schon 1891 hat André Gide in seinem „Le Traité du Narcisse" einen selbstverliebten Adam auf das Paradies verzichten lassen. Er zieht das Unvollkommene, Disharmonische dem Vollkommenen und Harmonischen vor. Er will, allerdings unter Anrufung des Teufels, sich selbst entdecken und eine, nämlich seine Geschichte haben: „denn es ist schließlich Sklaverei, wenn man nicht eine Bewegung riskiert, ohne die ganze Harmonie zu zerstören. – Und nun, was soll's! Diese Harmonie geht mir auf die Nerven, und ihr immer vollkommener Gleichklang. Eine Bewegung! Eine kleine Bewegung, nur um zu wissen – eine Dissonanz, zum Teufel! He! Los! Ein wenig Unsicherheit." Dies ist der entschiedenste Verzicht auf jede Utopie und ihre Sicherheit, auf das Glück der Harmonie. - Jede Epoche hat ihre spezielle Form von Utopie, vom literarischen Gesellschaftsentwurf bis zum konkret-wissenschaftlichen Vollzug und zum Kategorischen Imperativ als gesellschaftlicher Kompass. Ihre Idealität bedingt das zweite Element der Utopie, die Wünsch¬barkeit. Die naturwissen¬schaftlich begründete Manipulation schließlich als Weg zum „neuen Menschen" kann nicht einmal sicher sein, Zustimmung zu ihrem Ziel noch zu den vorgeschlagenen Verfahren zu finden: Eine Utopie, die sich als Antiutopie erweist für den, der sich scheut, Konditionierung und positive Eugenik auch nur in Betracht zu ziehen. – Allen Utopien gemeinsam ist ein Glücksversprechen. Glück allein braucht keine Utopie, es findet seinen Himmel auf Erden. Ebenso, wer nach dem Motto lebt „Ergreife den Tag". Aber Utopia braucht das Glück seiner Bewohner. Ihrer meist stationären Wirtschaft und Gesellschaft entspricht eine ebenso stabile Stimmungslage, eben die Harmonie, vor der der Utopie-Verächter Gides die Flucht ergreift. -

Wenn der „neue Mensch", nach dem immer die Utopien verlangen, nicht so leicht zu haben ist, nicht einmal durch fremdbestimmende Techniken, bleibt nur noch die Hoffnung auf den je neugeborenen Menschen und seine Neotenie mit ihrer Weltoffenheit und kreativen Neugier.

Jedoch: Der adjektivische Gebrauch – „utopisch" – wählt nur wenige Merkmale des substantivischen Begriffs aus. Das macht es leichter, an den Verheißungen Utopias teilzunehmen, ohne gleich das Ganze denken zu müssen und haben zu wollen. „I have a dream" war ein „utopischer" Traum von Martin Luther King. Noch vor Jahrzehnten war die Herzverpflanzung C. Barnards ein „utopisches" Projekt. Utopisches verwirklicht sich immer wieder. Wir denken nicht (mehr), dass sich unsere Zeit in einem Endzustand abschließt und harmonisch erfüllt. -

Der Utopie-Gedanke kann eine Memento-Funktion zur Selbstverpflichtung sein und auch dazu, das Unmögliche aber Wünschbare einzubeziehen. Er könnte helfen, Orientierungs¬marken zu finden, den plausiblen Ursprung für Alterna-tiven, Maßstäbe für Bewertungen. Sein Aufforderungscharakter, über das zerbrechliche Glück nicht die Sorge für dann und später zu vergessen: Das wäre der immerhin mögliche Glanz des Utopie-Gedankens und auch der des bescheideneren „Utopischen". Das Elend der Utopien wäre bei einer solchen Wahl nicht zu befürchten.