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18. Aug. 2011

Tomi Ungerer: Der Zorn des Utopisten

Gerd Breitenbürger


Es gibt ausgesprochen produktive Künstler in der europäischen Kulturgeschichte, deren Schaffenskraft im Grunde unverständlich ist. Nicht ihr Arbeitseifer scheint die Begabung für sich zu verwenden, sondern die Begabung hat von den Künstlern Besitz ergriffen. Honoré de Balzac schrieb an die hundert Romane, Rubens malte mit Hilfe von Gesellen eine sehr große Zahl hochformatiger Bilder. Man käme aber nicht auf den Gedanken sich zu fragen, ob sie ihr Thema erschöpft hätten, die Comédie humaine oder den Anspruch des Barock auf mythologische und historische Überhöhung der eigenen Kultur.


Bei 40 000 Zeichnungen plus x aus der Feder von Tomi Ungerer ist das anders. Der Gedanke drängt sich auf, dass eine Welt sorgfältig kartographiert werden sollte, ohne ein Thema, ein Motiv auszulassen. Einmal, weil die wenigen seriellen Darstellungen in seinem Oeuvre zahlenmäßig keine Rolle spielen und meist Bewegungsstudien sind. Zum anderen, weil der erkennbare Drang, nichts auszulassen und das Leben vollständig zu verstehen, schon immer einen ganzheitlichen Ansatz voraussetzt. Auf ihn laufen die Produktionen perspektivisch zu, während sie ihr Eigenleben behaupten. Er hat die Möglichkeiten der Dinge und der Menschen auf dem Zeichenpapier verwirklicht sowie er die Realien nicht ausgelassen hat. Es ist alles Abbild, aber Abbild seines Inneren nach außen gewendet. Es ist alles pure, sichtbar gewordene Phantasie, die sich auch noch Konstrukte als Objekte selbst schafft. Wenn Phantasie realistisch sein kann, dann ist sie es hier. Sie blüht auf in der Präzision, wie man sie auch noch von futuristischen Weltentwürfen kennt.


Sprachlich, so lässt sich sagen, waren die Chinesen in der Sackgasse, als sie anfingen, mit Zeichen, die sie aus der Realität ableiteten, ihre Sprache aufzuschreiben. Jedes Zeichen musste ein Ideogramm sein, ein Bild für den Menschen, ein Bild für die Sonne. Man muss ihren Mut bewundern, das scheinbar Uferlose auf diese Weise anzupacken. Aber es war ein Kampf gegen die Mitteilungslosigkeit, der Kultur genannt wird. Als sie 50 000 Zeichen erfunden hatten, war das eher wie ein Zufall, nicht das zwingende Ausschöpfen einer realistischen Dimension. – Der Realismus von Tomi Ungerer beginnt hier erst mit dem schwierigen Schritt zum Symbolischen, in die Gedankenwelt. Es ist die Entdeckung eines Möglichkeitsraumes, für den seine künstlerische Metasprache eine Interpretation findet. Ihr Sinn wird nicht konventionell vorgegeben, sondern muss vom Betrachter geleistet werden, der gerade dann, wenn der Künstler ihn beeinflussen will, herausgefordert wird, seine Welt zu teilen. Vom Slogan bis zur umfassenden Botschaft wird alles einem Zeichen mitgegeben.


Realismus, auch der literarische, ist an seiner Treue zum Detail erkennbar. Bei Ungerer dient er einer Interpretationsdimension, die sich mit dem Denkbaren und Wünschbaren auseinandersetzt. Er bringt es auf das Maß des Menschlichen, das im Kontrastbild so recht zur Geltung kommt. Er findet es an einem Nirgendort, wo das Unmögliche machbar wird. Diese künstlerische Dimension schließt also das Denkbare mit ein, was nie Sache eines einfachen Bezugs auf die Wirklichkeit ist. Der Pragmatiker Mao tröstet sich und bleibt Realist: „Der Weg ist das Ziel", während ein magischer Realist wie Tomi Ungerer die Vollständigkeit seines beschwörenden Rituals erfüllen muss, um sein Wunschziel wenigstens im ewigen Nirgendwo zu erreichen.


Wo ein Atelierkünstler leben lässt, hat Ungerer buchstäblich alles riskiert In seiner Welt, von den elementaren Dingen bis zu den anspruchsvollen Werten. Er hat sich bewegt und engagiert. Nicht in der Phantasie allein hat er manches Schwein mit dem Küchenmesser umgebracht („Es ist eine Mordsarbeit, ein Schwein zu schlachten..." sagt er über „ Mr. Dennis", den ersten), um an seine Koteletts zu kommen, auf dem schnellen Weg der Phantasie allein jedoch hat er erledigt, was eine Sexmaschine bieten kann. Er wollte und will nichts geschenkt haben, und seinen geschichtlichen Hintergrund will er auch nicht vergessen. Wenn die üppigen Frauen „Marianne und Germania" in aller Attraktivität miteinander tanzen, ist das für einen Franzosen und Elsässer wie Ungerer erlebte Geschichte, die zu einer Erwartung führt. Sie kommentiert zwei bittere Weltkriege und den Abgrund von Hass, der schlicht hieß: „Nie davon sprechen, immer daran denken." Seine Zeichnung spricht davon, das Daran-Denken zu vergessen.


Das Elend der Menschen, die miseria hominis, ist Treibsatz der Utopie. Realismus der Darstellung genügt da nicht, obwohl dem visuellen Medium höchste Wirksamkeit zukommt. Ironie und Sarkasmus und Groteske sind die Mittel, den stummen Schrei eines Bildes hörbar zu machen. Und die Quantität. Der „Petit Larousse" hat das Motto „Ich säe in alle Winde" und als Emblem die Löwenzahn-Pusteblume. Rastlos und fruchtbar zu sein treibt gerade den um, der sich einer Philosophie der Freiheit und Aufklärung verschrieben hat.


Die Ästhetik des Bildes garantiert dem Sinn ein zeitliches Fortleben und die eigentümliche Intensität der Kritik oder des Subversiven. Was als gedanklicher Gehalt des Symbolischen mit gemeint ist, muss erschlossen werden. Insofern handelt es sich auch um Gedankenbilder, die Sinnliches mit Sinn verbinden. Unser Denken bedient sich meist der Bilder und spricht dabei auch die Emotionen an. Manche Bilder wird man nicht mehr los, Gedanken, auch wenn sie Schleifen bilden, schon eher. Einen Frosch, dem man die Schenkel ausgerissen hat, vergisst man nicht als Zeichnung. Damit auch nicht die ganze Froschschenkel-Unkultur. Das Beispiel weist noch darauf hin, dass die Ästhetik des Hässlichen eine Wirkung erzielen kann, die die eines Harmonie-Schönen weit übertrifft.


In seinen Kinderbüchern kombiniert Tomi Ungerer die Bilder, bezieht sie aufeinander. Auf die Möglichkeit wollte er nicht verzichten, die seelischen Nuancen, die sich so darstellen lassen, „subliminal" in die Herzen der Kinder zu schmuggeln. Dieser Ausdruck der Psychologie bezeichnet den Vorgang, wenn die in jedem Alter mögliche Infiltration der ungeschützten Seele gelingt. In der Sprache seiner übrigen Zeichen- und Bilderwelt zeichnet er mit ausgesuchter Feinheit und geradezu liebevoll das Rohe der Welt, das Schreiende, das Zarte, das scheinbar Belanglose. Im Gegensatz zu einem chinesischen Schriftzeichen und Ideogramm, das selbstredend nur allgemein sein kann, ist jede Zeichnung ein individueller Text, ein Gedicht, nie gängige Münze. Aber immer und an erster Stelle ein ästhetisches Ereignis. Wie eine Welt für sich, ist jede vollkommen und immun gegen die Reduktion auf einen rein typologischen Sinn. Wenn der Kater Probleme mit der Liebe hat, heißt es "Kein Kuss für Mutter". Es ist der verweigerte Kuss für die Mutter, der besonders dem verweigernden Schmusekater selbst weh tut. Wer die Zeichnung seelenkundlich sieht, deutet sie unter Umständen als Fallstudie für das Einfordern von noch mehr Liebe durch trotzig- strafendes Verhalten gegenüber dem Liebesobjekt. Der eigentliche Zauber der Zeichnung ist aber nur zu erfahren, solange man nicht den analytischen Begriff an sie anlegt und nicht den Fall als Archetyp sieht, sondern gerade das wahrnimmt, was ihn übersteigt, die Situation eines Katers, der um Haltung ringt. Genau der Augenblick. Man könnte auch geneigt sein, philosophisch zu argumentieren. Liebe, sehr viel mehr Liebe will immer der Mensch, der seine Welt für ihren kalten Liebesentzug straft, nicht mit Verachtung, aber mit dem utopischen Gegenentwurf, der sie blamiert. Das wäre der Schritt von der Ästhetik zur Erkenntnis.


Wer Ungerers Bücher aufschlägt, weiß, dass nie eine partielle Welt auf ihn zukommt. Und dass er sich fürchten muss, weil erstaunlich viel in ihr Platz hat. Man schlägt arglos ein Buch auf, das auf die heilige Weihnachtszeit einstimmen soll. Und schon wirft der Nikolaus einen tadellosen Teufelschatten, freut sich als Kater über wie Ölsardinen eingelegte Mäuschen in der Dose. Betreibt klar Mädchenhandel mit Mädchen ohne Verpackung. Das Risiko, das Tomi Ungerer immer genommen hat, reicht er an den Betrachter weiter; denn Eindringlichkeit ist eines seiner Stilprinzipien, Rücksichtlosigkeit ist die Würze.


Sie kreist immer wieder um ein „J'accuse" und endet nirgendwo, weil das Leben so bunt wie im Kinderland und so brutal wie in der Menschenwelt ist. Nur dass hier die Anklage nicht einem Offizierscorps gilt, sondern gleich dem verirrten Menschen, wie der erste Vers des Inferno der Göttlichen Komödie als Kerngedanken das Wesen des Menschen festhält," ... denn der rechte Weg war verloren". Seine Philosophie erlaubt ihm einen moralischen Urzustand und das ist die Amoralität. „Anythhing goes", des Kindes, das alles gelten lässt, nur nicht die Ungerechtigkeit. „Die Gedanken sind frei", so sein der Kindheit gewidmetes Buch, so frei sind auch seine Gefühle und sein Verhalten. Es ist die Moralferne, die sich rechtfertigt aus der Enttäuschung über das Versagen jeder Moral. Der Mensch steht mit dem Rücken zur Wand, weil er in Notwehr den Verrat der Menschheit an Schönheit, Liebe, Friedfertigkeit und Mitleiden durchaus noch als sein eigenes Versagen begreift. Ihm bleibt nur der Möglichkeitsraum, an den ihn die Hoffnung anschließt. Tomi Ungerers Zeichnungen sind der Text dieser Philosophie der Eindringlichkeit, die wir auch Utopie nennen. Ihr Ausdrucksstil ist von der Kunst seiner Rhetorik bestimmt, deren Formenwelt immer und in erster Linie dem Prinzip ad rem, hart auf die Sache zu, entspricht. Ihr Pathos ist der Zorn.


Jede Anthropologie, ob biologisch oder philosophisch orientiert, will zu allgemeingültigen Aussagen über den Menschen gelangen. Deren ahistorische Langlebigkeit lässt sich belegen, wenn es schon in der Antike heißt, der Mensch sei des Menschen Wolf, „Ungeheuerlich ist vieles. Nichts aber ist ungeheuerlicher als der Mensch." So der griechische Tragödiendichter Sophokles aus dem Mund der Antigone. Die Philosophie ist Kummer gewohnt und so fasst sie lapidar zusammen, der Mensch sei ein Mängelwesen, stehe außerhalb, zu seinem Nachteil, seiner Instinkte. Was ihn daran hindere, das Tier-Mensch-Übergangsfeld endgültig zu verlassen. Dem pessimistischen Menschenbild, das die Antike kennt, steht die Hoffnung gegenüber, wenigstens in einer anderen Welt dem Jammertal den Rücken zu kehren. Der Ort heißt "Himmlisches Jerusalem" oder Staat „Nirgendwo", „Sonnenstaat" oder wie hier, „Orbis pictus – die Utopie via negationis", wo eine gezeichnete Welt über das Schreckutopische die wahre Utopie einfordert. Wenn nichts mehr hilft, so kann doch das visuelle Lernen über die Sinne die Vernunft erreichen mit der Überzeugungs- und Überredungskraft der kalkulierten Bildargumente. Darum steht die ästhetische Vollendung seines Zeichenstifts im Dienste einer massiven Absicht, zu beeinflussen. Wer nicht hören will, muss fühlen, muss sehen, muss leiden und dann doch noch lernen. Eine Manipulation, die nur funktioniert, weil der Betrachter die Kunst nicht durchschaut, wenn die Ästhetik den hintergründigen Sinn transportiert. Natürlich ist es so: Der Täter ist immer die Maus, nicht die Schlange. Diese tut, was getan werden muss. Die Maus hat nur eine Ahnung, richtet sich aber nicht nach ihr.


Der Mensch ist schlimm - Tomi Ungerer ist schlimmer. Es ist lächerlich, von der condition humaine zu sprechen, die Balzac mit knapp einhundert Romanen zwar nicht immer moralisch, aber stets inhaltlich vollkommen darstellen wollte. Was hat das zu tun mit dem Gruselkabinett eines Ungerer, in dem der Mensch nach Belieben eines grimmigen Künstlers durch die Wurstmaschine gedreht wird. Der aufmerksame Freundschaft und Liebe kennt und mit Großherzigkeit schmückt, seine Phantasie durch alle Stellungen eines Fucking-Automaten jagt, gnadenlos, mit der kalten Wut eines enttäuschten Anspruchsvollen, aber ohne Verlust an haargenauer Perspektive. Vom „épater le bourgeois" des Romantikers, dem die geistlose Lebensweise des Bürgers einfach zu beschränkt ist, ist es noch ein langer Weg zu einem zerstörerischen Verballhornen einer Restillusion, die Tomi Ungerer ausgiebig kommentiert. Ein Weg, nicht zu weit für ihn.


Vollkommenheit führt Tomi Ungerer vor, indem er die Kontingenzen der vorfindlichen Unvollkommenheit ausschreitet, bis zur Erschöpfung. Wer sie aushält, glaubt dem Vollkommenen näher zu sein, sieht es aber nicht. Über den Weg der Verneinung, „Via negationis" muss sie sich für ihn ergeben. Die Eklipse der Sonne ist das Bild der unio mystica. Der Seher ist blind, so stellt Ungerer sich selbst dar auf dem Katalog zu seiner großen Ausstellung des letzten Jahres 2011, weil er mit seiner Innerlichkeit die Dinge sieht, deutlicher als alle Realität, die er abschneidet, als würde alles, was an den chinesischen Zeichen ikonographisch ist, wieder durchgestrichen. Es ist die Vollkommenheit, die der Mensch als Erfüllung sieht, wenn das Auge nicht sieht. Wer die Hölle verneint, erreicht den Himmel. Für den Künstler bedeutet das, er muss sie kennen und kenntlich machen, sonst weiß er nicht, wovon er träumt. Wer wie kein anderer vor ihm die Welt im Bild ausschöpft und der Salzsäure seines Urteils aussetzt, endet und beginnt zwangsläufig bei dem Ideal, für das es kein Bild mehr gibt.


Tomi Ungerer hat alle Wörter, die es im Umkreis des „Genialen" gibt und die ihn gelobt haben, auf sich gezogen, wie Orden und Preise. Da sie ihn nicht unbeeindruckt gelassen haben können, haben auch die ihn erreicht, die seine sexuellen Ausführlichkeiten für bedenklich halten. Die seine Verhohnepipeleien und ätzenden, bösen Blick auf den amerikanischen Kulturkreis kommentieren. Wenn er seine Obsessionen pflegt, ist es ein geliebtes und verhasstes Thema, das alt ist und immer mit neuen Bildern umkreist wird. Worauf man sich verlassen kann. In der vergeblichen Hoffnung, es los zu werden, wenn er es objektiviert hat. Aber dieser Trick der Psychologen kann nicht funktionieren, wenn die Obsession dem eidetischen Gedächtnis eingebrannt ist, im malerischen „Mandelkern", auch wenn der Künstler nur ungern seine Bilder später nach Fertigstellung anschauen mag. Seine Obsessionen sind aber auch das Kinderbuch und Kinderliedbuch. Schalk und Übermut diktieren ihm eine Didaktik, die zu Recht in einem Bilderbuch und nicht in der Theorie der Pädagogik aufgehoben ist.


Es hätte weniger gebraucht, damit das eintritt, was er erreicht hat. Eindringlichkeit und Entschiedenheit einer klaren Überzeugung, Ästhetik und fest daran gekoppelter Inhalt haben meist wohl widerstandslos osmotisch die Menschen infiltriert, manchmal auch gegen deren Willen. Tomi Ungerer ist frei genug, sich darüber, auch grimmig, zu freuen.