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SÜDWESTRUNDFUNK, SWR2 AULA

Fantasie kontra Maschine –
Über als Grenzen künstlicher Intelligenz

Autor: Dr. Gerd Breitenbürger*

Sendung: Sonntag, 02. Januar 2005, 8.30 Uhr, SWR2



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Wer von der künstlichen Intelligenz einer Rechenmaschine spricht, denkt dabei nicht an einen Leistungsquotienten, der zwischen dem eines Normalbegabten und eines ausgemachten Esels liegt. Da geht es schon um eine Qualität, die es Apparaten erlaubt, Schachgroßmeistern Niederlagen beizubringen. Solche Niederlagen sind blamabel. Sie bekräftigen, was die Branche der Computerfreaks und die Vertreter der harten Künstlichen Intelligenz sowieso schon wissen: Der Computer, der als simpler Rechenknecht angetreten war, überflügelt inzwischen den Menschen. Sensible Geister mögen sich an einem Totalitarismus herkömmlicher Technik stören. Ein weit bedrohlicher wirkender Totalitarismus der Computer und Automaten kann aber auch robuste Naturen beunruhigen.

Computer sind in der Lage, intelligente „smarte Bomben” selbsttätig ins Ziel zu lenken oder gleich über Krieg und Frieden mitzuentscheiden. Sie können ganze Bevölkerungen empfindlich ausspionieren. Sie werden aber auch in absehbarer Zeit künstliche Gliedmaße mit feinster Motorik steuern, indem sie die Impulse direkt vom Gehirn abnehmen. Sie übersetzen Texte so, dass man diese immer besser gebrauchen kann.
Je „intelligenter” die Programme werden, umso ”dümmer” werden wir, inklusive die, die sie entwerfen und zum Laufen bringen. Relativ scheint das zu stimmen. Ihre Konstrukteure weiten nämlich in beachtlich großen Gruppen ihr Wissen zusammen, um unsere Defizite an geistiger Kapazität auszugleichen, die wir nun mal aufgrund individueller und stammesgeschichtlicher Begrenzungen haben. Daraus entstehen Programme mit Leistungsprofilen, die der einzelne Mensch nicht zu erreichen vermag.

Das erklärt auch, dass man dem Computer die Evolution am liebsten selbst anvertrauen möchte, indem man sie „lernfähig” und „anpassungsfähig” macht. Sie sollen einmal sich „fortpflanzen” können und ihrerseits weitere, evolvierende Roboter- und Computergenerationon zusammenschrauben. Spätestens auf dieser Stufe der Entwicklung konnte, so wird von weniger Enthusiasmierten befürchtet, aus dem Rechenknecht ein Herr und Meister werden, dem wir lediglich noch das Ölkännchen reichen.

Harte Kl, Bewusstsein. Computermetaphorik
Die Vertreter der harten künstlichen Intelligenz bewerten die Funktionstüchtigkeit des Computers mit der Behauptung, er habe „mentale Eigenschaften”, „Bewusstsein”, „Geist”. Schon ein Thermostat verfüge über drei Glaubenszustände, wie man meint, und ein computergesteuertes Vehikel könne man mit Fug und Recht, je nach Reaktion, „feige”, „aggressiv” oder „hungrig” nennen, ohne Anführungszeichen. Kurz: Der Geist des Menschen - ein Computer, der Computer - ein Wesen mit Geist und Bewusstsein.
Schließlich werde er den menschlichen Geist in dessen Funktionen sogar einmal übertreffen. Der forsche Umgang, der hier mit hochbewerteten Begriffen getrieben wird, wird Computermetaphorik genannte. Das ist ein harmloser Ausdruck für eine Problematik, die ihr Gewicht hat und die mehr beinhaltet als stilistische Finessen. In engagierter Literatur findet sich die Erkenntnis des Informatikers Steven Pinkers „Der menschliche Geist ist nichts weiter als der Bordcomputer eines Roboters, der aus Zellgewebe gemacht ist.”

Kann man, wenn man von den Vorgängen im Computer spricht, im eigentlichen Sinne meinen, es gebe eine „Syntax” und „Semantik”, eine „Symbolmanipulation” und schließlich auch noch „Berechnung” - alles ohne Anführungszeichen? Oder sind das aufgrund herkömmlicher Findungstechnik gewonnene anthropomorphe Metaphern für die Welt der Apparate, die nur vergleichen sollen, die am besten in Anführungszeichen zu setzen wären und die schließlich der Maschine ihr reines Maschinendasein lassen?
Die Beantwortung dieser Fragen entscheidet über das mögliche Weltbild einer ganzen Informatiker-Generation, die elektrisiert aber wohl auch vorschnell glaubt, ein Geheimnis mehr des Lebens entschlüsselt zu haben.

Berechnung: Turing, ratiomorpher Apparat
Zumindest der behavoristisch orientierte Wissenschaftler der Künstlichen Intelligenz Forschung, kurz KI, der ja wie die Behavioristen im Allgemeinen das Geistige in seinem Erkenntnisprozess links liegen lässt, müsste gegenüber der Versuchung immun sein, dem Computer Bewusstsein zuzuschreiben. Wenn wir dagegen sagen, in der black box sind neben dem Physischen auch Bewusstsein und Geist enthalten, interessiert das diesen Verfechter der harten Kl herzlich wenig. Bezieht er aber trotzdem diese Begriffe auf die Leistungsfähigkeit des Computers, so tut er das mit der Grundüberzeugung eines in der Wolle gefärbten materialistischen Monisten, der sich nicht scheut, dualistische und andere Positionen mit dem Gebrauch ihrer eigenen hochbewerteten Begriffe zu verunsichern. Für ihn ist die Frage längst entschieden, wer die Strukturiertheit der Welt und ihre Einheit besser erklärt. - Offensichtlich gibt es Wissenschaftler, die nicht wissen, ob sie sich über die alte oder diese neue Form des Materialismus mehr ärgern sollen.

Denn die Gegenposition, die ja auch von der Wissenschaft nicht weniger dezidiert vertreten wird, besagt, dass der Computer nichts von den materiellen Vorgängen in seinem Innern „versteht” dass er nicht seine Syntax und erst recht nicht eine semantische Ebene „begreift”. Für den amerikanischen Philosophen John Searle, den diese Thematik zeitlebens umgetrieben hat und der schlagende Gedankenbilder für sie fand, ist die Syntax, nach der regelrecht Symbole manipuliert werden, nicht ein Ergebnis des Physikalischen. Diese Ebene operiert lediglich mit elektronischen Zuständen. Erst in unserer Interpretation gewinnt sie Bedeutung. Damit etwas verstanden und begriffen werden kann, muss also ein Bewusstsein hinzutreten. - Es fragt sich nun: Aus welchen Quellen schöpfen die harten und künstlichen Intelligenzler ihre Argumente, um ihre These: Computer gleich Geist zu stützen?

In den 30er Jahren hat der britische Mathematiker Alan M. Turing ein Gedankenmodell entwickelt, mit dem er die Möglichkeiten von Berechenbarkeit überhaupt aufzeigen wollte. Seine sogenannte „Turing-Maschine” hat einen irreführenden Namen. Sie ist nicht eine materielle, sie ist eine gedankliche Maschine”, um experimentell die Eigenschaften von Berechenbarkeit durchzuspielen. Sie arbeitet mit Input von Daten und Output eines Ergebnisses, mit Schreibkopf, einem Speicher und inneren Zuständen. Sie erhebt den Anspruch, alles berechnen zu können, was ein Mensch mit - Zitat - „Papier und Bleistift” berechnen kann. Umgekehrt gilt, dass alle Lösungswege, die von diesem gedanklichen Computer?Vorläufer angewendet werden, auch für den Menschen nachvollziehbar sind. Voraussetzung für beide ist das Befolgen fester Regeln und natürlich die endliche Zahl der Rechenschritte. Es ist nicht abwegig, wenn Turing unter diesen Voraussetzungen zu der Annahme gelangte, seine „Maschine” habe eine Entsprechung in der materiellen Welt und sei eine Beschreibung der Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Hier lag ein Anstoß für weitere fruchtbare Forschung. Besonders die Kognitionswissenschaften, die eine Wende vom Behaviorismus weg zur lntrospektion darstellten, orientierten sich neu. Für sie war interessant, dass der Computer Informationen verarbeitet, eine Arbeitsweise, die ja gerade das Gehirn zu charakterisieren scheint. Das Gehirn arbeitet also analog zum Computer, so die Annahme, seine Kognitionen entstehen in Form von Berechnungen wie im Computer.

Bestimmte Leistungen des Gehirns wie das Steuern von Bewegungsabläufen des Körpers oder die Berechnungen in den Prozessen der Wahrnehmung werden, so lauten neurophysiologische Erkenntnisse, von einem ratiomorphen Apparat kontrolliert und gesteuert, der in der Tat von Biologen als „Computer”, jetzt aber in Anführungszeichen gesetzt, bezeichnet wird. Andererseits ist nicht alles, was in der Natur determiniert abläuft, dem Rechenautomaten zugänglich. Meteorologische Phänomene gehören dazu, aber auch Parkellierungsexeperimente mit einfachsten Formelementen, von denen der Mathematiker Penrose berichtet hat, belegen die Begrenztheit von Berechenbarkeit.

Bei Ihnen wird eine plane Fläche z. B. mit drei Typen verschiedener Vielecke ausgelegt die je aus gleichgroßen Quadraten aufgebaut sind. Das Muster, das ohne Lücken und ohne Überlappungen gelegt wird, weist nie Wiederholungen auf. Es ist daher unvorhersehbar und unberechenbar. Und erst der menschliche Geist? Er kann rechnen, das steht fest, aber ist auch alles, was er tut Berechnung?

Berechnen ist nicht - trotz Turingmaschine, Kognitionspsychologie und ratiomorpher Apparat - die alleinige Potenz des menschlichen Geistes. Er arbeitet nicht immer dieselben Algorithmen ab. Der Computer ist in seinem Wiederholungszwang für einen Freudianer eher ein trauriger Zwangsneurotiker. Und außerdem: Seine algorithmischen Verfahren selbst gehen aus der Erfindungsgabe, aus der Intuition des Menschen hervor. Intuitionen lassen sich nicht ausrechnen. Sie sind Kinder der Phantasie. Und sie brauchen wir so nötig wie den Blutkreislauf.

Phantasie in der Natur
von Phantasie spricht man bisweilen, um die unübersehbare Artenvielfalt in der Natur zu charakterisieren. - Naturwissenschaftler sind aber eher vorsichtig bei der Anwendung dieses Begriffs. Er hat Heimatrecht in der Psychologie gefunden und setzt ein denkendes Bewusstsein voraus. Für ihre Zwecke sprechen sie lieber von schöpferischer Freiheit und Kreativität in der Natur, was auf andere Weise auch problematisch ist. Da sie aber glauben, Physik und Biologie reichten in die Kultur hinein oder diese sei deren Folge, so Konrad Lorenz, Manfred Eigen und Rupert Riedl, ist es sinnvoll, zunächst einmal die Frage zu stellen, ob diese Begriffe anspruchsvoll genug sind, um das auszudrücken, was wir mit dem Begriff Phantasie meinen.

Auch Biologen und Anthropologen wenden sich entschieden gegen den Szientismus, der nur Messen und Rechnen für wissenschaftlich legitime Erkenntnisweisen hält. Die darin liegende Verkürzung versperrt den Blick auf eine ganzheitliche Welt, die nicht mit einem physikalistisch-determinitischen Ansatz hinreichend erklärt werden kann. Von der Quantentheorie in der Physik führe ein Band zum Zufall, den die molekulare Genetik im Mutations-Selektionsprinzip entdeckt hat. Die Freiheit, die darin erst einmal für die Natur liegt, wird dann aber auf die Kultur übertragen und soll deren schöpferische Freiheit erklären. Jedoch: Aus einem elementaren Antagonismus heraus wird betont, dass die Kausalität, die in Form übergeordneter Systembedingungen die Freiheit in der Natur kanalisiert, auch in der Kultur wirksam ist. Es ist eine Freiheit, die Grenzen aufgrund von Notwendigkeiten einhalten muss. Wir können, so heißt es bei Rupert Riedl „unseren Sinn und unsere Freiheit nur aus unseren eigenen Systemen entwickeln.” Ist aber dieser eingeschränkte Freiheitsbegriff so auf die Kultur übertragbar?

Dem Physiker und Chemiker Manfred Eigen folgend, spielen bei den Fähigkeiten Hörenund Sprechen, die für die kulturelle Entwicklung fundamentale Bedeutung haben, physiologische Begrenzungen eine entscheidende Rolle, die unabänderlich in Gestalt von Universalien vorgegeben sind. Sie stecken die Grenzen ab, die darüber bestimmen, ob das Hören erträglich und das Sprechen möglich ist. Wenn aber in der Natur Notwendigkeiten die Evolution in aller „Härte” kanalisieren, herrscht in der Kultur das Prinzip der immer möglichen und allseitigen Grenzüberschreitung durch Vorstellung und Phantasie. Der Regelbruch, der den Kanon sprengt, gehört konstitutiv zur Kultur. Die normative antike Rhetorik und Poetik zum Beispiel empfehlen das Ausbilden eines sicheren Geschmacksurteils, weil sie wissen, dass die lebhafte Phantasie, die der Begabung entspringt, das sogenannte „ingenium versatile”, stilistisch und inhaltlich gernüber die Stränge schlägt. Aber durch die Jahrhunderte, wie Ernst Robert Curtius feststellte, geht mit diesem klassischen Ideal kontrollierten Stils der Manierismus einher, der gerade die Regeln des ausgewogenen Geschmacks phantasievoll durchbricht. Jede Avantgarde lebt davon, konventionell gegebene Grenzen zu überschreiten. Es macht auch keinen Sinn, dabei an einen evolutiven Richtungssinn zu denken. Notfalls werden geradezu „revolutionäre” Mittel wie die Gewalt der Fäuste eingesetzt, um in einer veritablen Saalschlacht dem Regelbruch zum Sieg zu verhelfen. - Als „Schlacht von Hernani” hat ein solch abrupter Paradigmenwechsel, und zwar von der Klassik zur Romantik, Literaturgeschichte gemacht. Es ist also nicht genug, wenn die Naturwissenschaft die relative Freiheit der menschlichen Schöpfungskraft konstatiert.
Sie wird ihr nicht gerecht, wenn sie das natürliche Prinzip von Zufall und Notwendigkeit einfach fortschrelben will. Für die Natur ist ein kanalisierender Richtungssinn zwingend. Phantasie gibt es in ihr nicht. Der Regelbruch erlaubt der Avantgarde das Finden des absolut Neuen, ohne durch einen imperativen Richtungssinn behindert zu werden. Eine Naturgeschichte der Kultur, wie sie Rupert Riedl vorschwebt, wäre auf das beschränkt, was sich kausal fassen lässt. Sie wäre phantasielos.

Aus der Sicht heutiger Hirnforscher wie Gerhard Roth und Wolf Singer ist es ganz klar, dass der Mensch nicht zu autonomen und originellem Handeln in der Lage ist. Damit muss auch Phantasie eine pure Illusion sein. Doch diese Annahme hat ein schwerschwiegendes Manko. Die Laborexperimente, auf deren Ergebnis sie sich stützt, erlauben nämlich auch eine gegensätzliche Interpretation.

Phantasie in der Kultur
Die Ästhetik hat den Gegensatz von Phantasie und Spontanität einerseits und Berechnung andererseits schon lange plastisch ins Bild gesetzt. Der Dornauszieher bei Kleist bemüht sich erfolglos, seine eigene, unwillkürliche Bewegung berechnend in der Wiederholung nachzuahmen. Auch die Bedeutung der Intuition und Phantasie für Forscher und Künstler, ist überreich, zumeist in Anekdoten, belegt. Es verblüfft, mit welch hoher Präzision schon mal dem Träumenden die gesuchte Lösung im Schlaf getreten wird. Bekannt ist die Schilderung, wie der Chemiker August Kekulé im Jahre 1865 den Benzolring aus einer Traumphantasie herausfolgerte.

Wenn auch eine szientifische Haltung ihr Erkenntnisobjekt verkürzt, wenn sie nur und in aller Ausschließlichkeit Rechnen und Messen als wissenschaftliche Tätigkeit gelten lässt: Auch ihr ist die Phantasie, das irrationale Element, zwangsläufig vorgeschaltet und beigegeben. Und sie weiß es. Der kritische Empirist Pepper, der sich auf Bergson und Einstein zugleich beruft, übersieht nicht, dass der rationale Erkenntnisgang erst dann produktiv einsetzen kann, wenn irrationale Momente erfolgreich waren. Sie sind das Bindeglied zwischen Exaktheit, Berechenbarkeit und dem, was erst aus dem Nichts gezaubert werden will. Das eben gilt gleichermaßen für den Philosophen wie für den Naturwissenschaftler.

Nicht der homo calculans ist der ganze Mensch, wie sich schon der berechnende homo oeconomicus in der „Dialektik der Aufklärung” von Horkheimer und Adorno als Schwundstufe des mythischen Menschen nicht bewährt hat. Rationalität und Tradition, auch die der Forschung, geben Denken und Leben Sicherheit und sind auch dann noch unverzichtbar, wenn sie in wissenschaftlichen Revolutionen und Umschwüngen der Kultur in Frage gestellt werden. Aber immer ist auch die Phantasie, die ständig neu geboren wird, ein lebendiger Antagonist, der mit ihnen zusammen produktiv ist, in der Avantgarde wie im Alltäglichen. Denn sonst würden wir in den Automatismen des ewig Gleichen ersticken.

Phantasie in der Psychologie
Es ist nicht überraschend, wenn naturwissenschaftlich begründete Psychologie menschliche Gefühle, Vorstellungen und Phantasie ursächlich aus Quellen ableitet. Das freie Spiel der Phantasie, mit dem die Renaissance jubelnd den homo plastäs, den schöpferischen Menschen, auszeichnet, ist kein Thema für deterministische Systeme. Sie folgen dem monistischen Materialismus eines Hobbes, bei dem „Phantasmata” die Sinneseindrücke bezeichnen, die wie ein Echo nachhallen, während das Objekt der Sinneswahrnehmung nicht mehr gegenwärtig ist. Damit ist eine naturwissenschaftliche Auffassung von Phantasie gegeben. Freud und die in seiner Nachfolge stehenden Wissenschaftler, die über die Psychologie des Denkens gearbeitet haben, machen da keine Ausnahme, auch wenn es ihr Ziel ist, den Menschen in die persönliche Autonomie zu führen. Für die psychoanalytische Theorie sind es unbewusste Determinaten, die im Verein mit Trieben und deren Abkömmlingen, nämlich Wünschen, Affekte und Charaktereigenschaften, psychische Sachverhalte bestimmen. Wolfgang Loch sieht letzte Gründe, causae ultimae, die für Traumphantasien und ihre Ausdrucksphase bestimmend sind. Sonst wären sie nicht sinnvoll interpretierbar. Aber auch die psychoanalytische Theorie ist offen für eine Einschätzung der Phantasie, mit der sie einen rein naturwissenschaftlichen Begriff übersteigt. So ist die Sprache selbst nie „a purely cold process”, also nie rein rational-logisch, so David Rapaport in seiner Schrift „Auf dem Wege zu einer Theorie des Denkens.” In alle Abstufungen ist Phantasie hineingemischt, sie ist ubiquitär. Der Psychoanalytiker Bleuler meint eben dies mit seinem Begriff des Autismus.

Eine phänomonologisch-introspektiv vorgehende Psychologie kommt zu einem radikalen Schluss. In einer ausführlichen Studie über die Vorstellungskraft - „Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft”, die nicht zufällig am Anfang seines umfangreichen Werkes steht, untersucht Jean-?Paul Sartre gerade diese Schnittstelle zwischen der realen Welt und der Vorstellung, französisch „image mentale”, „geistiges Bild”. Er unterscheidet Vorstellungen bei bloßer Abwesenheit des Objektes von solchen, die sich auf nichtexistierende Objekte beziehen. Das entspricht der heutigen Einteilung in Erinnerungsvorstellungen und Phantasievorstellungen.

Die Vorstellungskraft markiert und ist, so Sartre, die Freiheit des Bewusstsein, die Welt zu verneinen und sich auf Nicht?Existierendes zu beziehen. Distanz zum Realen und seine Negation garantieren dem Bewusstsein die Möglichkeit, Vorstellung und Phantasie zu haben und damit absolute Freiheit, die in der Sartreschen Existenzphilosophie das Schicksal des Menschen sowieso entscheidet. Ist hingegen das Bewusstsein ohne Rest in die Welt „verstrickt”, kann es auch nur Reales hervorbringen.
Dann gibt es keine Lücken und Brüche in der Positivität der Dinge, wie es in „Das Sein und das Nichts” heißt. Sie wären „im Seienden unlösbar festgeleimt”. Der Mensch selbst wäre, wie es der psychologische Determinismus annimmt, an durchgehenden Kausalkotten wie an Marionettenfäden aufgehängt. Wenn Berechenbarkeit, und das heißt auch Sicherheit für Denken und Handeln, für uns wichtig ist, dann eben auch das Gegenteil davon, nämlich die Phantasie, damit wir nicht wie Automaten funktionieren müssen. In ihr zeigt sich die Freiheit des Menschen, indem sie ihm eine Gegenwelt erschließt.

Auf Jahrmärkten und in Passagen treten schon mal auf Podesten stehende roboterhafte Menschen auf, die mit metallischen Gliedmaßen eine mechanische Welt simulieren. Sie regen unsere Phantasie an, indem sie uns eine Deformation vorspiegeln, vor der wir uns zu fürchten hätten.

Diese Furcht, von der eingangs die Rede war, wird bisweilen pädagogisch geschürt. Es ist dann die Rede davon, dass Legionen von Maschinen die Tendenz hätten, zu einer Mega-Maschine zusammenzuwachsen, um den Menschen unter einem Totalitarismus der Dingwelt zu begraben, wie es Günther Anders befürchtet.

David Deutsch
Eben diese Schreckvision schwingt mit, wenn David Deutsch. ein amerikanischer Physiker, in einem Synkretismus von jüdisch-christlicher Eschatologie und Computergläubigkeit den Science-Fiction-Thrill einer universalen Computerwelt erzeugen will. In seinem Buch „Die Physik der Welterkenntnis”, das er für mathematisch und physikalisch Unerschrockene geschrieben hat, entwickelt er ein Endszenario des Universums, das von einem gigantischen Computer ausgefüllt wird. Es pulsiert in einem „Endkollaps” dem sogenannten „Omegapunkt” entgegen. Der Computer, der den Verstand der letzten Menschen restlos in Form von Programmen in sich aufgenommen hat, erreicht den Status von Allgegenwärtigkeit, Allwissenheit, und Allmacht. Schließlich, da die Intelligenzen, die im Computer gespeichert sind, kreative Denker sind, die als eine Person aufzufassen wären, wird dieser Universalcomputer von David Deutsch mit Gott identifiziert.

Nun wissen wir, seit Perry Rhodan, der Herr des Universums und der Groschenhefte, auf der psychoanalytischen Couch sein Innenleben preisgab, was solche Extrapolationen einer Welt bedeuten, in die der Mensch von der Technik aufgesogen wird. Es ist die Sehnsucht nach einer totalitären Lösung aller Menschheitsprobleme, die Sicherheit da vorgaukelt, wo die Kälte des Weltalls das Blut in den Adern gefrieren lässt. Was in der Agonie des Zentralcomputers als ewiges Leben aufscheint, ist nicht persönlich-individuell, sondern entmenschlicht, aufgeschrieben in programmierter Maschinensprache. Folgerichtig mutiert die Phantasie zu einem rationalen Programm. Sie kann in Modulen abgespeichert werden; denn sie ist vollständig berechenbar. Auch Ethik und Ästhetik müssen sich bei Deutsch einer Weltformel fügen und - Zitat „... so objektiv sein wie wissenschaftliche oder mathematische Wahrheit.” Zitatende. Die Welt, die ihm vorschwebt, kennt keine Zufälle, alles ist wesentlich und zu Ende gerechnet. Damit sind wir auch hier in der Theologie angelangt. Für sie ist Gott allein das Wesen ohne Kontingenz. Deutschs Programm heißt also: immanente Transzendenz oder einfach: Alles, was ein Gott ist und was er kann, werden wir im Diesseits haben. Er ist berechenbar und machbar.

Richard Rorty
Wem die Gedankenwelt eines göttlichen Universalcomputers als letzte Ausgeburt der harten künstlichen Intelligenz nicht geheuer ist, findet in der pragmatischen Philosophie Anhaltspunkte für eine utopische Gegenwelt, die nicht zufällig unter der Flagge der Phantasie segelt.

Der amerikanische Philosoph Richard Rudy geht davon aus. dass nicht Wahrheit das Ziel des Denkens ist, sondern Freiheit des Individuums, die sich in der Kreativität der Phantasie äußert.

Diese hohe Bewertung der Phantasie für die Selbstverwirklichung des Menschen hat ihre Geschichte. Die Renaissance sieht in Originalität und Spontanität, die die hervorragenden Eigenschaften genialen Schöpfertums sind, den Ausdruck des freien Spiels der Phantasie. In der Romantik, bei Novalis, werden zum ersten Mal Phantasie und ihr Schöpfertum als höchste Kulturwerte den Wissenschaften scharf entgegengesetzt, da sie die „schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle” machen. Rorty steht in dieser Tradition.
Den Wahrheitsanspruch jeder Metaphysik empfindet er als Rechthaberei mit zwangsläufig totalitären Zügen. Das Gegen- und Heilmittel der Wahl ist, wenn das Individuum eine private Selbsterschaffung inszeniert, die ein - Zitat - „irrationalistisches”, „ästhetisches” Leben - Zitatende - in einer freien und gerechten Gesellschaft erlaubt. Das Leben als phantasievolle Erzählung ist jedem möglich, da wir seit Freud wüssten, dass jeder ein kreatives Unterbewusstsein besitzt. Damit stellt Rorty persönliche, allerdings utopische Welten in Aussicht, in denen es für jeden Möglichkeiten gibt, originell und phantasievoll seine Persönlichkeit zu „erzählen”.

Habermas kritisiert ausführlich, dass Rorty den Wahrheitsbegriff für überflüssig hält und ihn zu dem der Rechtfertigung relativiert. Andere sehen im Selbstschöpfungsprogramm eine egomane Veranstaltung, die man „albern” findet.

Übersteigerte Computergläubigkeit, das heißt harte künstliche Intelligenz, die von der nicht originellen Überholbarkeit der Programme lebt einerseits und übersteigerter Individualismus, der nur die originelle Phantasie gelten lässt: Es lässt sich das eine als Aggression auf das, was wir Kultur nennen, deuten und das andere als ihre Verteidigung. Beide schenken sich nichts in ihrer extremen Form.

Schließlich will sich die Naturwissenschaft, wie gesagt anschicken, eine Naturgeschichte der Kultur - so Rupert Riedl - zu schreiben. Da man in der Natur das indeterministische Prinzip und überhaupt den schöpferischen Zufall auf gespürt hat, fühlt man sich zu diesem Projekt ermutigt. Aber die Kultur hat keinen Grund, über dieses Vorhaben, das mit ihren Vokabeln operiert, glücklich zu sein. Das Schöpferische in der Natur steht unter Systembedingungen, die für die Kultur nicht gelten, sodass eben doch ein entscheidender Spalt, ein Hiatus zwischen Natur und Kultur liegt. Die Mutanten, die bei Selektionen nicht beachtet werden, also beim Versuch- und Irrtum?Verfahren nicht zum Zuge kommen, sind damit aussortiert und für die weitere Evolution verloren. Die Phantasie hingegen gibt dem Menschen eine unbegrenzte Gegenwelt zur positiven Welt. Sie steht nicht unter vergleichbaren Restriktionen.

Denn der Mensch lässt auch, um es noch einmal in der Sprache der Positivisten zu formulieren, zuweilen Hypothesen wie Mutanten sterben. Er wählt dann die aus, die er für „richtig” hält. Dieses komplexe Verfahren, das sich im Repertoire des sogenannten gesunden Menschenverstandes findet, ist rational und höchst leistungsfähig. Es ist für die harten künstlichen Intelligenzier reizvoll, da es wegen seiner Rationalität der Berechnung besonders zugänglich zu sein scheint. Aber das Problem treibt sie zur Verzweiflung. Schon hier, wo Phantasie nur eine geringe Rolle zu spielen scheint, strecken sie die Waffen.

Umso erstaunlicher, mit welcher Leidenschaft nicht wenige Wissenschaftler Eigenschaften, die den Menschen auszeichnen, verkennen. Sie entdecken sie in der Welt der Apparate oder ignorieren sie einfach. Es ist offensichtlich nicht die sonst der Forschung so zuträgliche Versuch-und-Irrtum-Haltung, die sie treibt. Darüber sind sie hinaus. Jedoch: ihre Behauptungen scheinen etwas vom produktiven Irrtum zu haben: Auch die Äther- und Phlogiston-Hypothesen vergangener Jahrhunderte waren falsch und durchaus fruchtbar. Aber grundsätzlich stellt sich hier doch die Frage: Wenn ihre Überzeugungen keine Rolle mehr spielen sollten, bliebe da zu wenig von dem Faszinosum Technik?

Phantasie verspricht sehr viel mehr. Sie ermöglicht den Versuch einer eigenwilligen Vollendung des Individuums. Diese Idee hat mehr verführerisches Leben in sich als die Vorstellung, in einem gigantischen Computer, reduziert auf die Ziffern 0 und 1, ewig weiterzuleben und elektronische Schleifen zu drehen. Ob sich auf dem Weg origineller Phantasie gleichzeitig und zwangsläufig Autonomie erringen lässt, wie man verspricht, oder ob nicht mehr vorausgesetzt werden muss, mag offen bleiben.




*Zum Autor: Studium der Romanistik, Anglistik und Philosophie an der Universität Freiburg. Mehrjährige Studienaufenthalte in Pisa und Madrid. Promotion in Romanistik und Philosophie. Mehrere Jahre Mitarbeiter am Studium generale der Universität Freiburg, am Institut für deutsche Sprache, Mannheim sowie Lehrbeauftragter für Spanisch und Italienisch an der Universität Freiburg. - Veröffentlichungen im literatur- und naturwissenschaftlichen Bereich.