AB-AKAWELT

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G. Breitenbürger
16. Juli 2015


Die Geisteswissenschaftler und ihr Spieglein an der Wand
1 Das kulturelle Universale der Nachahmung

1.1 Spieglein, Spieglein an der Wand
Auf der Suche nach der Wahrheit hat es nur das Märchen wirklich leicht. Da genügt schon mal der Blick in den Spiegel und die Stiefmutter-Königin von „Schneewittchen“ weiß, was wahr ist. Als sie dann noch erfahren muss, dass die herangewachsene Stieftochter tausendmal schöner ist als sie, ist ihr Schicksal besiegelt, auch wenn sie es noch nicht ahnt. Der Spiegel hat den Überblick, und er sagt mit seinem mündlichen Kommentar auch mehr als er mit dem Bild der Königin zeigt. Das Bild zeigt eine schöne aber selbstverliebte Frau und kündigt mit seinem Kommentar ihren Untergang an. Was ihr nur noch bleibt, ist das folgerichtige Handeln.
Der Neurophysiologe Benjamin Libet wollte wissen, ob der Mensch über einen freien Willen verfügt und schaute gleich in dessen Gehirn. Feuernde Neuronen an zwei Stellen und in Millisekunden getaktet, gaben immer das gleiche Schaltbild, aber noch nicht die Wahrheit. Es war immer nur die Vorlage für eine Interpretation aufgrund von Wissen und Erfahrung.
Wir sprechen von Spiegelneuronen, die aktiv feuernd mitgehen, wenn das Individuum, ursprünglich also der Makakenaffe im Labor, bei einem anderen eine bestimmte Handlung beobachtet. Noch einfacher, wenn unbewusste Reaktionen wie gähnen, lachen und sich ekeln sich in dieser Weise spontan wie bei einer Ansteckung weiter ausbreiten, liegt es nahe, aus dem Anstecken eine ganz allgemein wirkende Fähigkeit zur Empathie abzuleiten und vom Prozess spiegelnder Nachahmung zu einem kulturellen Universale der Nachahmung zu kommen. Eine solche Hypothese hat sehr viel für sich. Es wäre allerdings dabei zu beachten, dass bei einer Interferenz von Natur- und Geisteswissenschaften, die hier ja exemplarisch vorliegt, die Argumentationen anspruchsvoll sein werden, da es auch immer um Determinismus und Indeterminismus gehen wird. Aber das Mitgehen der Spiegelneuronen, wenn Individuum 2 Individuum 1 beobachtet, ist eine Tatsache und besitzt immerhin das Wahrheitskriterium der Einfachheit, der Eleganz.

1.2 Verleimung der Wirklichkeit
Der oben erwähnte neurophysiologische Aspekt hat eine kulturelle Ergänzung, wenn gesagt werden kann, Spiegelneuronen, die ja auf Neuronen bei anderen Individuen anspielen, seien eine sehr direkte und auch innige Form sozialer Kommuniktion und sogar der emotionalen Bindung. Antipathie, Sympathie und Empathie sind hier offensichtlich zu nennen. Über Mimesis, Imitatio und Nachahmung läuft dann seit jeher die sozio-kulturelle Vernetzung der Menschen, etwa über die Medien Sprache und Bildlichkeit und das Auditive, aber auch in der Lebenspraxis. Der Lehrling ahmt den Gesellen und den Meister nach. Der Geselle vergleicht sich mit dem Lehrling und ahmt den Meister nach. Dann wetteifert der Geselle mit ihm und wird selbst Meister. Diesen Weg nahm auch der Rhetorikschüler in der Antike und der Schreinerlehrling heute noch. In Kunst und Literatur wird seit Aristoteles der Begriff Mimesis gebraucht. Die Nachahmung der dargestellten Wirklichkeit wäre dann stilistisch zunächst der Realismus bis ins 19. Jahrhundert, der erst mit den Impressionisten in der Malerei aufgegeben wurde. Die italienische Geschichtstheorie spricht schon mal von „Immagini Riflessi“, Bilder der Realität, die denkend wiedergespiegelt werden. In der Erkenntnistheorie hat der Spiegelgedanke seit dem Mittelalter und auch heute noch Bestand. Seit Thomas von Aquin hat man die Definition für Wahrheit als eine Spiegelung der Sache im Gehirn angesehen (adaequatio rei et intellectus).
Während die eins zu eins Spiegelneuronen-Konstellation trocken und kausal funktioniert wie ein Abdruck aus einer Petrischale, wäre das durchaus eine Verleimung der Wirklichkeit im Sinne Jean-Paul Sartres, ihre Determiniertheit, die hier aber nicht weh tut. Im Gegenteil, sie ist hilfreich für den Organismus. Ein hoher Organ-Anteil im Körper funktioniert sowieso automatisch, man denke an den ratiomorphen Apparat, der wesentliche Steuerungen der Wahrnehmung völlig automatisch kontrolliert. Die oben angesprochenen Spiegelungen im affektiven Bereich können nicht nur trockene Übertragungen sein, obwohl zum Beispiel gerade Empathie in dieser Richtung interpretiert wird. In die interpersonalen Beziehungen fließen Kognitionen und Emotionen ein. Es wird schon hier kausal gespiegelt und ein Delta aus anderer Quelle berücksichtigt.
Wenn Imitation ein Universale ist, dann leuchtet dieser fundamentale Satz von erheblicher Reichweite ein:. „sie (die Säuglinge) machen nicht eins zu eins nach, sondern sie variieren die Wiederholung ihrer Nachahmung. “ (Gerhard Lauer, Aula-Vortrag „Lesen mit Spiegelneuronen“). Es ist nicht die Delta-Differenz, die in der Biologie auf verschiedenen Ebenen immer auch als Variation anzutreffen ist, sondern Geist in statu nascendi. Im Säugling regt sich etwas komplett Neues. In einem weiten Bogen gelangt man von hier zur Literatur und Kultur und kann unschwer das Konzept des Indeterminismus unterbringen. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass Spiegelneuronen eine Informationsübertragung leisten, die für das Verstehen und die Verständigung elementar sind. Aber nicht in jedem Fall für alles ausreichen.

1.3 Das Baby lächelt
Gibt es, so lautet die Frage, um „Spiegelneuronen“ herum ein Begriffs- und Bedeutungsfeld, in dem Geistes- und Naturwissenschaften sich zusammenfinden. Das Baby lächelt und spiegelt dabei das Lächeln der betreffenden Person. Lächelnd spiegelt und erspielt es sich aber auch eine Individualität. Es lässt dabei eine Delta-Abweichung vom Gesichtsausdruck seines Betrachters in seiner Antwort zu. Vorausgesetzt ist aber ein genauer Wert der Mimik als Grundlage. Diese ist aus Erfahrung gemittelt worden, beim Säugling handelt es sich um die empirische Nulllage, auf die es aber auch eine erste Wirklichkeitserfahrung moduliert. Die Genauigkeit der Imitation braucht das Baby, die Abweichung muss es zulassen können, wenn es kein Automat sein will. Die Spiegelneuronen, die in diesem Fall agierend im Spiel sind, sind in ihrer Bedeutung, wie etwa beim Lachen, nicht fassbar. Es fehlt nämlich der eindeutige operationale Ansatz einer zielgerichteten Handlung. Das Baby erklärt sich nicht, sondern bietet Handlung pur. Es handelt sich bei dieser frühen Kulturleistung um die Vorbereitung eines Basisniveaus von Wissen und Können und von sozio-kultureller, also geistiger Kompetenz. In der Folgezeit entwickeln die Spiegelneuronen sich in ihrer Funktionalität und zeigen eine umfassende Effizienz. Noch später in der Entwicklung könnten wir dann sogar einem Thesaurus von Neuronenclustern ein semantisches Bedeutungs-Lexikon zuordnen. Wenn wir behaupten können, beide, Thesaurus und Lexikon seien keine Aufzählungen, sondern dynamische Netze mit Sinn und Verstand, die Kausalität und Multikausalität zu transzendieren in der Lage sind, erreichen wir den Kategorienwechsel und unsere Computermetapher erhält ihre Seele zurück.
Als der Neurophysiologe Benjamin Libet mit der Aktionsweise von zwei einsamen Neuronenclustern glaubte nachweisen zu können, der freie Wille existiere nicht, wurden die Geisteswissenschaftler zum ersten Mal genötigt, sich mit Physik zu beschäftigen, um einen Angriff zu verstehen und abzuwehren.
Bei den Spiegelneuronen scheint es ebenso zu sein, aber es besteht für die Geisteswissenschaft die Möglichkeit, dieses sehr wohl experimentell belegte Phänomen in ihre Gedankenwelt einzubeziehen, statt sich von ihm bedroht zu sehen. Und das mit Gewinn. Nur dort, wo es den Modus der Genauigkeit gibt und einen Standard für die Wahrnehmungen, kann sich der Möglichkeitsraum öffnen, in dem auch die nicht abbildende, die surreale und poetische Welt Platz findet.
Imitatio, Mimesis, Spiegelneuronen verdienen das Prädikat „richtig“, „zutreffend“, solange sie auf etwas Physikalisches oder Physiologisches wie das Gähnen hinzielen. Bezogen auf die Ästhetik geben sie das elementarste Argumentationsniveau ab und wohl auch das aufregenste. Darf der Betrachter weiterhin sagen, das Bild spricht mich an oder muss es heißen, die Kombination dieser Farbpigmente haben die und diese Wirkung auf mich. Er darf wohl weiterhin davon ausgehen, dass das Bild ihn anspricht, er muss allerdings nun wissen, dass er da eine Metapher benutzt, „sprechen“ für affizieren, die Sinne berühren, was dann bei ihm zu einem Sinnaufbau führt, und nicht in der Weise, wie sie eben doch nur im Märchen geschieht. Der Spiegel kommentiert da sogar sein eigenes Bild, so märchenhaft sieht heute nur manche Psychologie ihre Chancen, Kunst zu interpretieren. Der Kunst eröffnen sie Möglichkeitsräume, die auch unmöglich sein dürfen. Es ist immer der Betrachter, der sie ausgestaltet.
Ein anderer Ausdruck für Freiheitsgrade wäre eben „Möglichkeitsraum“, in den Frage, Verneinung und andere Stilmittel den Weg weisen. Wie viele Bedeutungen hat eine Ironie nun tatsächlich und auch noch gleichzeitig. Sie finden im Möglichkeitsraum das, was Kultur, Wissen, kollektive Erinnerung und noch individuelle Biologie und Biographie bereithalten. Wenn diese von den Psychologen „Lebenswelt“ genannte Welt, die auch noch eine Geisteswelt umfasst, für jeden einzelnen holistisch ein seelisches und geistiges Zuhause ist, könnte er sich schon mal verirren, aber nicht kausal verleimt blockieren lassen. Was ihn leitet, ist die Sprache und das Bewusstsein und das Ästhetische im allgemeinen Sinn. Da sie den Einzelnen sozial verknüpfen, können Spiegelneuronen wirksam werden. Sie sind ja der physikalische Ausdruck und die Garantie dafür, dass der Mensch ein politisches Wesen, ein zoon politikon ist. Selbst in der Sprache fand Kant und finden moderne Linguisten und Psychologen wie Wolfgang Loch noch empirische Spuren, die bis in die abstrakten Spitzen wirksam sind und dem Spiegelneuronen-Konzept mit einem Rest an eidetischer Substanz entgegenkommen. Die Spiegel-Neuronen sind, aber nicht ausschließlich, ein Schlüsselimpuls für eine neue Handlung. Sie sind mit doppelter Funktion, wie ein Porte-manteau-Morphem für die Linguisten, ausgestattet und verbinden sehr innig ein Individuum mit einem oder mehreren anderen, und sie verdoppeln produktiv und kreativ die Welt, zwangsläufig, aber nicht mal zwingend isomorph, gestalt-identisch, sondern homomorph. Oder sogar surreal. Das heißt mit ausreichender Ähnlichkeit, kausal oder assoziativ noch fassbar. Was nach den Spiegelneuronen kommt, unterliegt weiteren Einflüssen.

1.4 Ästhetik zwischen Kausalität und Freiheit
„Aisthesis“ ist jede Sinnesempfindung, auch die taktile. Hier ist besonders die auditive des Gehörs und die eidetische des Auges angesprochen. Für den gesprochenen Text wurde das Phänomen der Spiegelneuronen beobachtet, für die visuelle Wahrnehmung einfacher Handlungsabläufe wurden die ersten schlagenden Belege geliefert.
Wie schon vorgeschlagen, bietet es sich an, Spiegeln mit Mimesis, Nachahmen und lateinisch Imitatio gleichzusetzen, auch wenn sich bestimmte Reaktionen beim Makaken ohne Absicht, spontan einstellen, also Nachahmen als reines Ereignis. Diese physiologische Beobachtung erweitert man auf weitere Ereignisse, und man glaubt das auch schon deswegen tun zu müssen, weil Neuronen, also Nervenzellen, unwillkürlich vom optischen Außenreiz stimuliert werden und eins zu eins die Wirklichkeit, so wie sie in den Nerven nun also codiert ist, zunächst reproduzieren. Das klingt immer noch deterministisch, auf dieser Ebene kann man diesen Eindruck auch nur schwer wegdiskutieren. Wenn die Dinge aber ausschließlich so abliefen, käme man in Schwierigkeiten. Der Mensch als Maschinenwesen, wie man sich eher das Tier vorstellt, wäre ein Wesen, dessen Amputation man sich leicht klarmachen kann. Die Frage, wer bin ich, hält der Positivist für abgeschmackt und nicht für beantwortbar. Wo ist meine Banane von vorvorgestern geblieben, hält er dagegen für sinnvoll. Also, verleimte Welt ja, wie kommen wir aber aus dem Leim heraus.


2 Kausalketten im Geiste der Freiheit

Erich Auerbach, der große Romanist, nannte sein Hauptwerk „Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. “ Der aristotelische Begriff für Nachahmung ist zugleich dessen Realdefinition für Literatur. Aber so einfach ließ sich die Wirklichkeit nicht mit Worten darstellen; denn bald hieß es in der Kritik, ein bewunderungswürdiges Buch, nur der Titel sei nicht zutreffend.
Es gibt eine Nulllinie für die Darstellung der Wirklichkeit, wo wir beginnen könnten. Der Dadaist ging zurück bis zum Lallen, auch auf der Bühne, um sie darzustellen. Hier, wo der Schwachsinn zu Hause ist, ist die Wirklichkeit fast noch ohne Sinn und Verstand. Die formlose Sprache ist schon eine Wirklichkeit, die wenig Determiniertheit signalisiert, weil sie jenseits von ihr ist. Es ist die reine Emotion, die wir festmachen können, wenn wir in eine tiefere Dimension gehen. Es ist hier die noch embryonale Lebenswelt, wo das Fragen nach der Bedeutung überflüssig ist. Es handelt sich um Neuronenfelder für Emotionen, die den Neuronen und Spiegelneuronen benachbart sind. Sind wir hier schon den Freiheitsgraden nähergekommen, die wir aufspüren wollen? Auf jeden Fall könnten wir sie zu sehen glauben, wenn die Ausdruckstänzerin der 30er Jahre, Mary Wigman, ekstatisch ruckartig soihre Gefühle tanzt („freier Tanz“). Das ist keine Nachahmung, die ja Bedeutung schaffen würde. Einen Stil kann man imitieren, nicht einen Fingerabdruck. Ein solcher Tanz orientiert sich nur an seinen eigenen Bewegungen und Emotionen. Das könnte man Freiheit im Schöpferischen nennen.
Sigmund Freud denkt und argumentiert naturwissenschaftlich und verfolgt Kausalketten, wenn er den Pathologien nachspürt. Das behandelte Individuum soll aber frei und spontan werden, was eine Aporie für seine Theorie darstellt, nicht für die Praxis. Rapaport, dem man eine kluge Synopsis der Gedanken Freuds verdankt, fuhr noch völlig selbstsicher das kreative Denken auf Triebunterdrückung zurück, wo keine Freiheit zu erwarten ist. Auch die „differenziertesten Vorstellungen, Gedanken und Worte wie auch die Gefühle und „Signal- Affekte“ allgemein bleiben für die der Psychoanalyse verpflichteten Denker, seien es deren Theoretiker oder auch Linguisten, in funktionaler Verbindung mit dem Triebgeschehen. “ (Loch, S. 203). Die Psychologen denken so, die Naturwissenschaftler ebenso, trotzdem soll in wenigen Schritten gezeigt werden, dass die praktische Arbeit mit der Sprache und den Spiegelneuronen deren determinierten Charakter verändert.

2.1 Die Chimäre am Münsterdach
„Was ich wahrnehme, ist das, was ich weiß; das Objekt kann nichts mitteilen. “ Diesem Satz Sartres (S. 53) widersprechen Dichter wie Rilke und poetisch gestimmte Psychologen. Sie nehmen die Metapher, das Bild spricht, es schaut mich an, als proprium, als eigentlichen, d. h. wörtlichen Ausdruck, und mit einem Mal können Bilder natürlich sprechen, ein Dialogverhältnis eingehen und sogar Partner werden. Wer aber konsequent das Konzept der Spiegelneuronen bedenkt, kann nicht annehmen, dass es die Neuronen selbst sind, die funktional oder mit irgendwelchen Inhalten identisch oder durch ihre mehr oder weniger komplizierte Struktur das Denken selbst besorgen. Es wäre die Lösung des Problems, was macht der Mensch, wenn er denkt. Das Bild würde seinen Sinn vollständig mitteilen können, jede Interpretation wäre überflüssig. Jedes Bild wäre ein Nürnberger Trichter. Schon das einfache Libet-Experiment zeigt überdeutlich, dass die Neuronen Auslöser sind für Wissen und Handlungen, die eine Lebenswelt, bei ihm sogar des Experimentators, miteinschließen. Die Chimäre am Dach des Münsters erkenne ich, wenn ich weiß, es ist eine Chimäre, ein Wasserspeier. Ich begnüge mich hier aber mit der populär immer beliebten Typenbezeichnung. Was sie auf der Merkmalsebene ist, wo das wesentliche Definieren aber stattfindet, etwa, es handelt sich um das Fabelwesen Greif, weiß ich nicht, und die Chimäre sagt es mir auch nicht. Hätte ich mich aber mit Chimären an mittelalterlichen Gebäuden beschäftigt, würde ich das Objekt als das erkennen, was es zu sein scheint. So ist es gemeint, wenn es heißt, das Objekt kann mir nichts mitteilen. Sprechende Bilder, sprechende Spiegel, das geht natürlich schon, solange man an Schneewittchen glaubt und an das, was deren Spiegelneuronen mir erzählen. Aber auch hier, noch einmal mit Sartre, „das Verstehen ist keine reine Reproduktion einer Bedeutung [also Spiegelung]. Es ist ein Akt. “ (S. 166). Mimesis, Imitatio sind nicht das Verstehen selbst, da sie eine Bedeutung, so die fälschliche Annahme, reproduzieren. Mit anderen Worten, wenn Neuronen spiegeln, kann es damit nicht, zum Glück, sein Bewenden haben. Wo bleibt die Bedeutung? Bei rein physiologischen Reaktionen gilt das nicht, gähnen ist nicht mehr als das. Bei anspruchsvolleren Vorgängen ist damit zu rechnen, dass ein Akt ausgelöst wird, der außerdem noch von Emotionen begleitet und bewertet wird. Schon bei sachlichen Dingen ist es so, ich sehe nur drei Seiten eines Würfels, aber Wissen zu haben bedeutet, durch Wissen das dem Blick Abgewandte zu interpretieren und von allen sechs Würfelseiten „zu wissen“. Prägnanz ist ein Begriff für automatisches Vervollständigen einer Wahrnehmung. Der ratiomorphe Apparat geht vollständig auf in seinen Hilfsfunktionen und ist natürlich in seiner Determiniertheit von unendlicher Nützlichkeit. Sein dispositiver Schematismus ist nicht der Sinn, „macht aber Sinn“, und zwar laufend. Ebenso sind Spiegelneurone eine Gewähr dafür, dass Freiheit nicht untergeht. Erst, wenn eine Neuronen-Mechanik im gesamten Organismus funktioniert und den menschlichen Geist kolonisiert, gäbe es keine Freiheit. Aber dann bräuchten wir sie auch nicht einmal und würden auch nicht merken, dass sie uns fehlt.

3 Mimesis, Imitatio, Nachahmung plus x

Aristoteles meint, Literatur ahme die Wirklichkeit nach. Er dürfte dabei auch an Homers epischen Stil gedacht haben, der tatsächlich Wirklichkeit mit seiner Kunst in Worte fassen will. Der Romanist Erich Auerbach beginnt sein Werk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit der europäischen Literatur mit der Heimkehr des Odysseus von seiner zehnjährigen Irrfahrt und der Szene, in der er von seiner Amme an einer Narbe am Bein wieder erkannt wird.
„Sie aber trat heran und begann ihren Herrn zu waschen, und alsbald erkannte sie die Narbe, die ihm einst ein Eber mit dem weißen Zahn schlug, als er zum Parnass kam, zu Autolykos und seinen Söhnen...“ (19, 380 ff).
Homer schildert in einer recht langen Abschweifung das Jugenderlebnis des Odysseus und wie er sich die Jagdverletzung zuzog. Sehr plastisch und durchaus spannend. Dann kehrt er wieder zur Amme und Odysseus zurück.
Die Narbenepisode liegt natürlich zeitlich vor der Wiedererkennung und ist kausale Erklärung. Das zeitlich Vorgeordnete zeitlich nachgeordnet zu bingen, ist schon eine rhetorischer Figur, wohl auch eingesetzt, um der Langeweile einer linear verlaufenden Handlung – und dann, und dann, und dann - zuvorzukommen.
Trotzdem ist das meiste assoziativ verknüpft, was einer archaischen Form von Kausalverkettung entspricht, der man als Hörer, die homerischen Epen wurden ja an den Höfen vorgetragen, erst einmal folgen musste. Wer „schwer von Begriff“ war, interpolierte schon mal unzureichend und verlor den Faden, was mit Sätzen, die eine Konjunktion wie „weil“ stringent verbindet, nicht so leicht passiert.
Schließlich wird die Lagerstatt des Ebers, der bei der Jagd aufgestöbert wird, mit drei negativen Sätzen charakterisiert. Es sind drei Wirklichkeiten, die nicht da sind. Das kann man nicht sehen, das muss man verstehen. Und man versteht es aufgrund eines speziellen Wissens.
Von der wiedererkannten Narbe zu deren Entstehungsgeschichte findet ein Perspektivwechsel statt, ein ganz anderes Thema steht jetzt im Vordergrund des Interesses. Das überleitende Stilmittel ist denkbar sparsam, muss aber auch erst einmal verstanden werden. In einem Kriminalfilm von Donna Leon, Reiche Erben, ist die Aufklärung des Mordes in einer Rückblende enthalten. Der Dieb geht in das Zimmer der alten Frau, um sie zu bestehlen. Als mutmaßlicher Mörder verlässt er es wieder. Diese Szene ist mit Blaufilter gedreht. Man weiß sofort, das ist eine Szene, die eine Aufklärung bietet und wird auch gleich wieder verlassen. Homer kann sich darauf verlassen, verstanden zu werden, wenn er von einem Bild zum anderen übergeht, die beide als Folge und Ursache, bei aller Verschiedenheit, verbunden sind. Die ebenfalls archaische Vorform der Kausalität, die man hier erwarten könnte, ist die Formel post hoc praeter hoc. Was nachfolgt, hat seinen Grund im Vorhergehenden. Gerade diese Erwartung einer natürlichen historischen Abfolge wird hier getäuscht und das Folgende zuerst gesetzt. Auch diese Stilfigur des hysteron proteron erzeugt eine zusätzliche Emotion, den ästhetischen Genuss, in der Poetik von Horaz delectatio genannt.
Theodor Fontane definiert den Realismus als die „Wiederspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst. “ (wikipedia). Der Realismus bei Homer oder bei Donna Leon ist schon nicht die Wiederspiegelung des wirklichen Lebens allein, reine Mimesis, das kann es kaum geben, sondern beinhaltet schon eine starke Herausforderung der abbildenden Neuronen Richtung Tiefenschicht, hier „Elemente der Kunst“ genannt. Schon das hypotaktische Denken mit seiner Unterordnung von Sätzen bei Homer entspricht nicht einer schlichten realistischen Weltsicht, noch der Perspektivwechsel, der hereigeführt wird mit besonderen Mitteln. Nur im Vampirfilm geschieht es, dass der Spiegel die Gestalt eines Vampirs nicht zu spiegeln vermag. Im Realismus erwartet man eine eins zu eins Wiedergabe, Verneinungen und Fragen, hypotaktische Verhältnisse, sie kann die Spiegelneuronen-Allgegenwärtigkeit nicht auffangen, ebenso wie die nicht zu unterschätzende Dimension der Erinnerung, der Zielsetzung und des Erwünschten. Wenn sie doch thematisiert werden, mit ihren Voraussetzungen und Folgen, gegenwärtig in der Sprache und Vorstellung des Publikums, so speisen sie sich aus einem Fundus, einem kulturellen Wissen, aus unserem Lebensbereich. Die antike Rhetorik nennt als Voraussetzung das ingenium versatile, den beweglichen Geist, der diese Schätze zu verwalten hat.
Die Neuronen-Cluster ohne diese Schlüssel-Funktion wären völlig sinnlos, wie leuchtende Sternbilder am Himmel. Im Gegenteil, sie sind die Impulsgeber für den Zugang zu dieser Tiefenschicht und zu benachbarten Neuronencluster. Es gibt die Realität der Wirklichkeit aber nur in dem Sinn, dass sie immer schon als eine interpretierte in Erscheinung tritt. Nur wenn das Kleinkind zum ersten Mal lächelt, interpretiert sich das Individuum selbst, rein und entwaffnend. Sonst muss ein ganzer Lebensraum parat stehen, auch mit reflexiven Erkenntnissen, wie aus dem Einsichtslernen gewonnen, auch emotional, um das jeweilige Individuum voll zur Geltung zu bringen. Das wäre auch mehr als der Wissenserwerb, der für den Schweizer Psychologen Jean Piaget in der organischen Anpassungsbeziehung des Menschen an seine Umgebung liegt. Das Bild vom abhängigen Menschen, der wie ein U-Boot völlig von seinen vermittelnden Instrumenten gesteuert seine Spur zieht oder das Individuum, das über „awareness“, Achtsamkeit, sozial eingebunden ist. Auch der Freud-Interpret Rapaport betont schließlich die Bedeutung der individuellen, freien Persönlichkeit, die für Freud selbst am Ende seiner talking cure steht. Nicht der Transfer von Neuronenbildern wäre da geschehen, Gähnen auf der Couch mit seinen Spiegelwirkungen zählt nicht. Eher müsste man von einem mühseligen Aufbau von Clustern über einen längeren Zeitraum sprechen und hätte aktiv aus einer persönlichen, verleimten Welt herausgefunden.

3.1 Der Tanz der Spiegelneuronen
Maurice Chevalier auf der Bühne, ein erstes Beispiel dafür, dass selbst die Spiegelneuronen nicht kausal festgezurrt sind. Sie überspielen sich selbst, die andererseits sogar zu der Leistung fähig sind, halbfertige Bilder bzw. Schemata zu ergänzen, Prägnanz herzustellen, wo etwas fehlt. Aus sich heraus sind Spiegelneuronen nicht dazu in der Lage, wie auch Polypen, denen man einen Körperteil amputiert hat und die ihn nachwachsen lassen, eine Steuerinstanz dazu benötigen.
Sartre legt im Kapitel „Das Bewusstsein von Imitationen“ (Das Imaginäre) dar, wie eine Imitatorin und ein jeder Imitator ein „Besessener“ ist. Eine Schauspielerin imitiert Maurice Chevalier.
„Gesicht und Körper der Parodistin verlieren nicht ihre ganze Individualität; und doch erscheint auf dem Gesicht, dem Leib der Frau die expressive Natur „Maurice Chevalier“. Es ergibt sich ein Zwitterzustand, nicht ganz Wahrnehmung, nicht ganz Vorstellung ... Diese unstabilen, nur vorübergehenden Zustände sind selbstverständlich für den Zuschauer das Amüsanteste an der Imitation. “ (S. 55).
Hier ist es offenkundig erlaubt, dass die Spiegelneuronen übereinander durchgepaust sind und trotzdem unterscheidbar bleiben und etwas Drittes produzieren. Dass der Zuschauer die eine oder die andere Person akzentuieren kann. Eine erhebliche Dynamisierung des zunächst statischen Neuronenbildes. Völlig überraschend ist folgendes Phänomen, das von Sozialpsychologen beobachtet wurde. Es handelt sich um den Gesichtsausdruck bei Gesellschaftsdamen (in den USA), die mit respektvoller Freundlichkeit ihre Gesprächspartnerin anschauen und gleichzeitig einen neidisch-feindseligen Ausdruck nicht verbergen können. Die Spiegelneuronen können sich an keinem anerzogenen Standard orientieren, sie schaffen hier so etwas wie eine gleitende Emotion auf der Oberfläche einer erstarrten Mimik.
Eine letzte Steigerung, die für eine gewisse Sensitivität der Spiegelneuronen möglich ist, sind die Kippbilder. Wenn man sie betrachtet, sieht man einmal einen Kelch, dann kippt das Bild und man sieht zweimal ein Gesicht im Profil. Es ist die Wahrnehmung als aktiver Prozess, der beides nacheinander sieht, sich aber nicht für ein Bild endgültig entscheidet. Auch wenn es heißt, in der Natur sei Unentschiedenheit ein Nachteil und so würde hier vom Wahrnehumungsapparat andauernd eine Entscheidung getroffen: Das identische Bild wird präsentiert, nun aber von den Spiegelneuronen schematisch aufgespalten. Über sie wird aktiv und kreativ eine Doppeldeutigkeit produziert, da, wo sie eigentlich nur eindeutig abbilden sollten. Ein Zerrspiegel wie auf dem Jahrmarkt, der das Umschalten selbst zu leisten scheint. Bekannt ist der Rashomon-Effekt, bei dem identisch gespiegelt, different interpretiert wird. Spiegeln in einer Weise, die die Frage der Bivalenz annulliert, das lässt auf einen höchstwirksamen „Untergrund“ schließen. Bewusst eingesetzt wird er vom Pointillismus, bei dem die Spiegelneuronen zur Weiterverarbeitung einer weiteren Ebene angeboten werden. Die Narrative der Literatur gehören hierher und die Tintenkleckse, die im Rohrschachtest den Lebensraum eines Menschen an die Oberfläche holen, ohne selbst für die Spiegelneuronen verwertbar zu sein und weil sie nicht realistisch verwertbar sind.

3.2 Klimazustände
In der Liebe schaffen die Menschen ein bestimmtes Klima um sich herum, daher der Titel „Climats“ von André Maurois, einem positivistisch ausgerichteten französischen Schriftsteller. Mit psychologischem Realismus subtiler Art hat er die Liebesbeziehungen zwischen Menschen geschildert. In der Geschichte ihrer Liebe erhalten die unterschiedlichen Eigenschaften und Neigungen ein Gewicht, das den Autor besonders interessiert. Der eine möchte gerne allein sein, mit den Büchern, der andere ausgehen und Kontakte pflegen und Zerstreuungen suchen. Als die Partnerin stirbt und Philippe wieder liiert ist, entdeckt er, dass er nun die Dinge gerne tut, die er früher abgelehnt hatte und seine neue Partnerin mit den Verhaltensweisen quält, unter denen er früher selbst gelitten hatte.
Wie ein Haus, das von denen verlassen wurde, die es gebaut und eingerichtet haben, dann von neuen Besitzern gekauft wurde, den Geruch und die Geisteshaltung der ersten Besitzer behält, so, ganz imprägniert von Odile [seiner ersten Frau], zeigte ich von nun an in meinem Leben eine Seele, die nicht mehr ganz die meine war. (S. 169).
Hirnwäsche in diesem Zusammenhang klingt übertrieben. Die eine, ein manipulativer, absichtsvoller Prozess mit einem klaren Ziel wie in Orwells 1984, im anderen Fall Umpolungen im Verlauf einer innigen Beziehung. In der Kulturgeschichte kennt man dieses Phänomen, vom Kulturtransfer Friedrich II von Süd- nach Norditalien, in der Renaissance, in der im Verlauf der Auseinandersetzung mit der klassischen Antike ein neues Lebensgefühl entstand. Bewertungen und Emotionen standen obenan, die Stil-Imitation prägte die Geister.
Das bekannte Bild der Renaissance ist der Zwerg auf den Schultern eines Riesen. Die rezipierte, imitierte Kultur ist Basis für die eigene schöpferische Weiterentwicklung. So lautet die vollständige Formel für das kulturelle Universale der Nachahmung.