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SÜDWESTRUNDFUNK, SWR2 AULA – Manuskriptdienst

Utopien: Muster ohne Wert?

Autor: Dr. Gerd Breitenbürger*

Sendung: Dienstag, 25. Dezember 2001, 8.30 Uhr, SWR 2



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Es ist ganz ausgeschlossen, dass die Bewohner der ehemaligen DDR, als sie den Westen wie eine Verheißung in Augenschein nahmen, auch nur hofften, das leibhaftige Utopia zu betreten. Gerade sie wussten ja aus Erfahrung, dass Utopia mit „Nirgendort“ zu übersetzen ist. Mit ihrem geschärften Sensorium für die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis war ihnen dieser Begriff einer versprochenen Gesellschaft längst verdächtig geworden. Aber die beim ersten Ansturm uferlos erscheinende Fülle stets genüsslich genannter Südfrüchte und veredelter Torten legte doch die Hoffnung nahe, so etwas wie ein Schlaraffenland zu entdecken. – Das Schlaraffenland, wie es das Märchen oder Pieter Brueghel d. Ä . beschreiben, bereist der, der in seinen primären Bedürfnissen zu kurz kommt. Die gebratene Taube, die in den Mund fliegt, wird obsessiv in der Hungerphantasie.

Die Utopie kann dann als die anspruchsvolle Fortentwicklung des opulenten aber unbedarften Schlaraffenlandes gedacht werden, das die Befriedigung von Hunger und Durst sicherstellt und garantiert. Und zusätzlich: das Zusammenleben der Menschen in einem gerechten und erfreulichen Gemeinwesen. - Das Interesse an der utopischen Thematik war ausgesprochen groß. In der Zeit von 1750 bis 1950 erschienen nach Robert N. Bloch nicht weniger als 2790 Utopien im deutschsprachigen Raum. Sie wirkten vor allem mit ihren idealen Gegenbildern zu den wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Verhältnissen der eigenen Zeit.

Die neu zu gestaltende Gesellschaft und der zwangsläufig zu schaffende oder zumindest zu erziehende Mensch, der für diese neue Welt die passende Moralität entwickelt, sind das Problem der Utopien, um das es im folgenden gehen wird. - Thomas Morus prägte mit seiner „Utopia“ von 1516 den Namen der Gattung, und er gab für die Utopien, die in den folgenden Jahrhunderten erschienen und die zu den meist gelesenen gehörten, die bevorzugte Wirtschaftsverfassung vor: den Kommunismus - alles gehört allen -, in dem auch die sozialen und rechtlichen Probleme ideal gelöst sind.

Thomas Morus ist von Armut und rabiater Rechtsprechung beeindruckt, die im hungergeplagten England des 16. Jahrhunderts Mundraub mit dem Strang bestraft. Seine Utopia setzt ihn voraus, den „neuen Menschen“. Er sei den Problemen gewachsen, die aus der Eigentumslosigkeit entstehen könnten. Er befolgt in Übereinstimmung mit den Instinkten und der Vernunft die Wegweisungen der Natur, was mit Lust und Genuss verbunden ist. Die primären und höheren Bedürfnisse werden befriedigt und für alle gilt, dass „Furcht, Angst, Sorge, Mühsal und schlaflose Nächte“ aufgrund der ökonomischen Struktur ein Ende finden.

Mit der „Utopia“ von Morus und Platons „Politeia“ gehört der „Sonnenstaat“ von Tommaso Campanella zu den einflussreichen Utopien der abendländischen Geistesgeschichte. Der „Sonnenstaat“ erschien 1623. Auch er ist sozialistisch aufgebaut, es gibt kein Privatei- gentum. Selbst die Frauen sind Allgemeineigentum. Was gerade aus der Feder eines Dominikaners wie eine interessante Pikanterie erscheinen könnte, ist lediglich altes Ideengut zu dem Thema, wie der Mensch, der durch Besitz so leicht korrumpierbar ist, seine Eigenschaft als neuer Mensch ohne soziale Disharmonie durchhält.

Karl Marx und Friedrich Engels bezeichneten diese Utopien als Ausdruck eines „utopischen Sozialismus und Kommunismus“, dem wesentliche Elemente eines „wissenschaftlichen Sozialismus“ fehlen. Ihn wollten sie selbst entwickeln. Er wurde später, nicht unumstritten, als „konkrete Utopie“ etikettiert.

Der „neue Mensch“, den das zentral gesteuerte, planwirtschaftliche System fordert, um funktionieren zu können, wurde auch „homo sovieticus“ genannt, eine idealtypische Abstraktion, die alle Eigenschaften bündelt, die von den Menschen dieses Systems erwartet werden müssen. Sie steht im Kontrast zu dem Modell, das die klassische Nationalökonomie für bestimmte Erkenntniszwecke entworfen hat, zum „homo oeconomicus“. Das Wesen dieser gedanklichen Konstruktion ist die Annahme durchgehend zweckrationalen Handelns, etwa nach der Minimax-Regel, d.h. Erreichen eines maximalen Ergebnisses bei gegebenem Mitteleinsatz. Um auf den „homo sovieticus“ zurückzukommen: Er hat eine charakteristische Voraussetzung, nämlich die Annahme, gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln zu besitzen. Daraus leitet sich die notwendige Motivation ab, für den Gemeinnutz, nicht für den Eigennutz zu arbeiten. Wenn das kommunistische System funktionieren soll, muss auch dieses Ideal verwirklicht sein. Oder anders: In dem Maße, wie dieser Anspruch nicht eingelöst wird, scheitert das System in der Strenge seiner Konzeption. Lenin war fassungslos, als er sah, dass nach subjektiv gelungener Planung Apparat und Gesamtsystem sich fehlerhaft entwickelten. Zunächst wurden noch „Subbotnikä “ eingeführt. Der Ausdruck leitet sich ab von „Subbota“, Samstag. Es handelt sich um unbezahlte, freiwillige Mehrarbeit an diesem Wochentag. Die Tatsache, dass sie von der Bevölkerung erbracht wurde, stimmte Lenin zunächst optimistisch: „Das „Kommunistische“ beginnt erst dort, wo in großem Ausmaß unentgeltliche, von keiner Behörde, von keinem Staat genormte Arbeit von einzelnen zum Nutzen der Gesellschaft geleistet wird. “ Das Katastrophenjahr 1921 und die erzwungene Rückkehr zur „Neuen Ökonomischen Politik“, die eine Form der Marktwirtschaft war, ließen Lenin verzweifeln. Seine Reaktionen auf organisatorische Fehlentwicklungen reichten von Zornesausbrüchen, Annahme von Sabotage bis zum Verfolgungswahn. Denn der „homo sovieticus“, der „neue Mensch“ versagte auf der ganzen Linie: „Es gibt keine Arbeiter, es gibt nur noch Gesindel. “ (Lenin, 1921).- Beim „homo oeconomicus“ ist es gerade umgekehrt. Wäre er als Inbegriff reiner Zweckrationalität in der Wirklichkeit real handelnd anzutreffen, wäre er der Untergang jeder Kultur und schließlich auch jeder Utopie. Seine Zweckrationalität würde die schöpferischen und eigentlich humanen Möglichkeiten des Menschen ersticken. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno benutzen den „homo oeconomicus“ in ihrer „Dialektik der Aufklärung“, um das Scheitern der Utopie der Aufklärung, wie das 16. Jahrhundert sie konzipierte, zu charakterisieren. Damit haben beide Idealtypen, der „ökonomische Mensch“ und der „sowjetische Mensch“, letzterer in seiner spezifischen Fehlerhaftigkeit, die darin besteht, dass der Egoismus der Wirtschaftssubjekte nicht überwunden werden kann, einen rasanten Abstieg aus den Höhen der Utopie bzw. der idealen Zweckrationalität in die Katastrophe realisiert: Der eine in die Wirklichkeit seines materiellen Scheiterns, das ursprünglich dem Kapitalismus zugedacht war, der andere, weil man sagt: Jeder Unternehmer ist ein rein zweckrationaler „homo oeconomicus“. Seine Katastrophe heißt „Kulturindustrie“ und „völlige Entzauberung“, sofern man Horkheimer und Adorno in ihrer pointierten Kritik folgen will.

Die Konzeption eines „neuen Menschen“ des Sowjetkommunismus ging endgültig unter im „Gulag“ und der Chinas im „Lao-Gai“-System, wo allein, nach inoffiziellen Schätzungen, 50 Millionen Menschen „umerzogen“ wurden, wie es in einer entlarvenden Sprache heißt. Tadeusz Rózewicz, der „lebende Klassiker“ der polnischen Literatur, hat dieses Schicksal zeitgenössischer Utopien mit knappsten Versen verdichtet: „unterwegs zum Neuen Menschen/zum Neuen Jerusalem/zur Utopie//..//aus der ferne drang das gebell//von hunden und menschen. “ -

Von dieser konkreten historischen Diskreditierung frei war die Hoffnung auf einen neuen Menschen aus einer anderen Weltgegend. Sie kam aus der Faszination, die Che Guevara auf eine Generation junger Menschen ausübte, die ihre Kritik am Bestehenden mit der Hoffnung auf grundlegende Änderungen verbanden. Er war der kämpfende Held, der die Versprechungen der Utopie verkörperte. Sie musste nicht in Programmen und feinsinnigen Analysen ausgearbeitet und vorgelegt werden. Der Held war als Inbegriff und Garant der Utopie überzeugender als alle Verlautbarungen. Das ist neu in der Geschichte der Utopien, die für gewöhnlich zwischen zwei Pappdeckeln vorgelegt werden. Als Mensch und Mann attraktiv, weckt er Träume und gibt selbst diffusen Hoffnungen einen konturierten Inhalt. Utopie scheint zum ersten Mal möglich zu sein und sich im Hier und Jetzt zu ereignen. „Es ist der Mensch des 21. Jahrhunderts, den wir zu schaffen haben, auch wenn das bisher nur als subjektives und unsystematisches Streben erscheint .... ..Wir werden uns härten im täglichen Handeln, in dem wir einen neuen Menschen mit einer neuen Technik schaffen. “ (Che Guevara 1963). Das bedingt aber auch den fragilen Status des Helden, wenn er im Kampf stirbt. Sein Scheitern macht sinnfällig, dass nicht alle wesentlichen Bedingungen im revolutionären utopischen Prozess kontrollierbar sind.

Selbst in Form einer Utopie dargeboten, empfiehlt der Brite Julian Barnes („A History of the World in 10 1/2 Chapters“, 1989) mit einer Paradiesvorstellung auf trivialem Niveau schließlich den Abschied von jeder utopischen Glücksvorstellung. Es wird in aller Banalität ein Leben im Himmel geschildert, dass in seiner oberflächlichen und ständigen Glückserfüllung zum Alptraum wird. Weit unter dem Niveau traditioneller Utopien und sie schon parodierend, verlegt sich Barnes auf „sex, beer, drugs, fast cars“, um höhere Bedürfnisse dieses nunmehr britischen Traums ad absurdum zu führen. Sein großer publizistischer Erfolg sagt etwas über die Bereitschaft zur Selbstkritik am favorisierten Lebensstil, indem das utopische Paradies als Strafe gesehen wird. Es verurteilt die Menschen dazu, ewig und immer mit ihrer Bier- und Sexseligkeit sich gleich zu bleiben. Sie wählen schließlich so etwas wie einen originellen, paradiesischen Freitod, der ihnen noch attraktiver als die Genüsse ihrer Utopie erscheint.

Da ist es naheliegend, den Hebel der Naturwissenschaften anzusetzen, die mit der gewohnten Zuverlässigkeit Erfolg versprechen. Man geht von genetisch bedingter Moralität aus oder nimmt gleich die Erbanlagen der Bewohner Utopias aufs Korn. In den 70er Jahren meinte Burrhus Frederic Skinner, mit seiner extremen Milieutheorie, die der erste ernstzunehmende naturwissenschaftliche Ansatz ist, den Menschen so konditionieren zu können, dass „richtiges“ Verhalten erreicht wird. Konditionieren bedeutet, gezielten Gebrauch von Signalen machen, auf die prompt und automatisch erwünschte Reaktionen erfolgen, ohne Umweg über kritische Reflexion oder andere Seelenkräfte. Es läuft darauf hinaus: Ein Pfiff und alles hört auf das Kommando. Es wurden schon Politiken damit begründet. So aber wollten sich viele nun doch nicht den neuen Menschen vorstellen.

Verhaltensforscher wie Wolfgang Wickler, Autor des Buches „Biologie der zehn Gebote“ (1971) betonten im Gegenzug zur behavioristischen tabula-rasa-Vorstellung Skinners, dass der Mensch von Geburt etwas mitbringt, nämlich genetische Dispositionen und Programme. Der Mensch wird von der Natur „vorprogrammiert“, auch für Verhalten und Moral. Eine Generation später knüpfen an dieser Ausgangslage zwei Utopieansätze an, die völlig verschiedene Konsequenzen daraus ziehen: Das „Projekt Weltethos“ von Hans Küng und die „Anthropotechnologie“ von Peter Sloterdejk.

Das „Projekt Weltethos“ von Hans Küng will dazu beitragen, die Menschheit im Weltfrieden zusammenzuführen. Theonomische, also von Gott gegebene „Maximen elementarer Menschlichkeit“ und die „Goldene Regel“, die umgangssprachlich lautet „Was du nicht willst, das man dir tut,... “ usf., finden sich in allen Weltreligionen und sollen darum das Projekt möglich machen; denn sie seien „verbindlich und verbindend“. Die genannte goldene Verallgemeinerungsregel setzt ein Verständnis dessen voraus, was gut oder schlecht ist. Dieses hängt aber von der jeweiligen Sprache ab. Für ein Weltethos ohne Grenzen müsste man schon eine Annahme biblischen oder mittelalterlichen Denkens in Anspruch nehmen können, nämlich die einer verbindenden Sprache. Wilhelm von Ockham behauptet, die innere Sprache des Intellekts gehöre keinem konkreten Idiom an („verba mentalia...sunt nullius idiomatis“).

Heutige Wissenschaft sieht den Menschen in seiner jeweiligen Sprachgemeinschaft und ihre Institutionen eingebettet. Sein Verständnis von Moral, so muss gefolgert werden, ist vorgeformt und relativ kritikresistent. Selbst wenn Moralität interkulturell vergleichbar wäre, als hätte der Turmbau zu Babel noch nicht stattgefunden, so gilt für Moral die Wirklichkeit einer je eigenen Sprache und einer je eigenen Interpretation. Hier bleibt es bei der Situation nach dem Turmbau und, wenig hilfreich, auch noch vor Pfingsten, bevor der Heilige Geist polyglott, aber in einem identischen Sinn, der hier ja gebraucht würde, die Völker verbindet.

Die von Küng zitierten fünf Maximen decken sich im Detail mit denen, die Wickler aus Sicht der Verhaltensforschung als angeborene Ausstattung des Menschen identifiziert: Die elementare Moral des Menschen, die also genetisch verankert sein soll, müsste eindeutig über spezifische Auslösemechanismen wirksam werden. Der Verhaltensforscher lrenäus Eibl-Eibesfeldt stellte schon früh kritisch fest, dass diese Annahme recht unsicher sei. Das „Projekt Weltethos“ auf den Weg zu bringen ist also schwierig, wenn sich erweist, dass für die von Gott gewollten fünf elementaren Maximen eine genetische Grundlage stillschweigend vorausgesetzt wird, die nicht wunschgemä ß funktioniert.

Der insulare Charakter erlaubt den Utopien, das Böse fast ohne Rest in eine „äußere“ Welt zu exportieren und loszuwerden. Eine solche topographisch, höchst pragmatisch vollzogene Trennung von Gut und Böse, vergleichbar dem biblischen Verfahren, Schuld mithilfe von Sündenbock und Wüste, zu entlasten, erlaubt das „Weltethos“ nicht. Eine solche Technik versagt, wenn, wie hier, die Dimension des „Äußeren“ nicht existiert. Die Kalamität wurde für das Psychische von Sigmund Freud, verhaltensbiologisch von Konrad Lorenz und ebenso generell von Kant festgestellt: Der kategorische Imperativ nötige zur Tugend, diese sei aber nur annäherungsweise zu erreichen. Auch der guten Welt ist das Böse nicht fremd. Für Küng kein Problem, auch nicht die wacklige Tragfähigkeit der fünf Maximen. Sie sind für ihn universelle und mächtige Vorschriften, deren Problematik, wenn sie nur beachtet wird, ganz neue Themen aufschließen würde.

Es resultiert im übrigen logisch eine klassische petitío principíi:
Die Einigung durch transkulturelle Moral soll das Ziel sein, wird aber schon vorausgesetzt. - Ein möglicher Hinweis, mit welchen Schwierigkeiten das Ethos zu kämpfen hat, das „verbindlich und verbindend“ für die ganze Welt wirken soll.

Der zweite naturwissenschaftliche Ansatz, den Menschen zu verändern, extrapoliert den aktuellen Erkenntnisstand. Im „evolutionäre(n) Horizont“ sieht Peter Sloterdejk „eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringen“, als Fortschritt zu dem, was Christentum und Humanismus nicht geschafft haben: den „neuen Menschen“. Letzterer scheiterte daran, dass er am „Leitbild des starken Menschen“ orientiert war und so immer wieder Komplize schlimmster Gräuel wurde. Entsprechend tiefgreifend ist das Rettungsprogramm.

Die „tierische“ Natur des Menschen wird auf technischem Weg so mit den Mitteln der positiven Eugenik, also der direkten und gezielten Manipulation des Erbguts, geliftet, dass er das Tier-Mensch-Übergangsfeld a tempo überquert. Genetiker verneinen diese Möglichkeit. Nicht einzelne Gene bestimmen die Merkmale menschlichen Verhaltens, sondern überaus komplexe Gen-Ensembles. Sie formen auch nicht die Merkmale selbst, sondern nur deren Dispositionen. Soziale Intervention in Form von Erziehung im weitesten Sinne ist nötig, um sie mit Leben zu erfüllen. Was Sloterdejk für seine Überlegungen voraussetzt, die Machbarkeit, ist also nicht gegeben. Das von ihm angenommene „züchterische Königswissen“ kann keinesfalls auf eugenetischem Weg die „expliziten“ Merkmale beeinflussen, für die, neben Humanwissenschaften wie Psychologie und Pädagogik, praktische Erziehung zuständig ist und offensichtlich bleiben wird.

Das Konzept der Manipulation und Selektion durch eben dieses ominöse „züchterische Königswissen“ wird bei Platon noch relativ harmlos auf der Ebene theoretischer Erörterung behandelt. Die faschistische Entschlossenheit, den neuen utopischen Menschen zu züchten, geht einen Schritt weiter ungeniert in die Praxis. Himmler und andere hohe SS-Chargen mit Hühnerzuchterfahrungen sprachen zynisch von „Viehzucht“.

Aber die von ihnen angewandten Methoden erinnern in ihrer Einfachheit doch eher an die zarten weißen und roten Blüten der Gartenerbse. Deren gelungene Kreuzung in Handarbeit, vollzogen im Klostergarten, erfreute im 19. Jahrhundert das Herz Gregor Mendels, Vater der experimentellen Genetik. Er leistete in aller Unschuld die Vorarbeit für den radikalen Schritt, der jetzt in eine neue Welt und zu einem neuen Menschen riskiert werden soll. - Das Absolutsetzen der eigenen Machtansprüche war das ideologische Prinzip der Lebensborn-Praktiker. Der zeitgenössische Philosoph argumentiert erstaunlicherweise nicht konträr zu Platon und nicht zur faschistischen Theorie und Praxis.

Wir scheinen uns ja schon immer auf der Seite der Schafe und Rindviecher wiederzufinden, die man züchten will, was nicht weit von einem Züchtigen liegt. Die gefeierten Errungenschaften schwarzer Pädagogik sind schließlich nicht fern. Vielleicht ist es deshalb unsere utopische Hoffnung, in ruhigeren Zeiten eine Gesellschaft zu finden mit weniger machtbesessenem Krampf und ohne Clubs der königlich wissenden Hüter und Hirten. Wenn die mit unseren genetischen Gattungsmerkmalen spielen, müssten sie Würfel verwenden - nur sie passen zum Thema - denen eine Flush-Garantie eingezinkt ist. Allein schon, um nicht von dem alten Herrn mit der Rippe deklassiert zu werden. Und die Frage, was den Hirten fähig zur erfolgreichen Zielbestimmung macht, ist noch nicht einmal gestellt.

Er kann über ein königliches Hirtenwissen, hier liegt die zweite Achillesferse der Utopie, nicht verfügen; denn eine teleologisch angelegte Planung des Erbguts und eine Übernahme der Verantwortung für die weitere Stammesentwicklung können nicht bestehen gegen den Entwicklungsmechanismus Mutation und Selektion. Denn wo dem Menschen, wie in dieser Situation ganz zwangsläufig,die Kriterien ausgehen, Entscheidungen rechtfertigen zu können, endet Planung im Losverfahren oder gleich in Willkür oder bestenfalls in einer Neuauflage teleologischen Irrglaubens.

Mit Pipette und Petrischale soll jetzt das krönende Menschenwerk beginnen, nicht productio ex nihilo, aber dafür aus der Glasschale, ex vitro mundus fiat. So als habe ein glücklich wiederentdeckter Schöpfergott kontingente Welten im Kopf, aus denen er den Menschen frisch filtrieren und erschaffen kann.

Abgesehen von den technischen Fragwürdigkeiten seines Projekts stört es Sloterdejk nicht, dass mit einer hohen Einschätzung des Genetischen die Kulturgeschichte des Menschen nicht nur als von seiner Natur, sondern auch noch als von seiner Naturwissenschaft abhängig gedacht werden muss.

Die hier liegende Heteronomie, also Fremdbestimmung des Menschen durch Gentechniker und auch noch durch das sogenannte „Leitbild der Weisen“, ist eine gemeingefährliche Potenzierung von angeblichem Sachzwang und königlich allwissender Rhetorik. Sie wäre das Gegenteil von dem, was hoffentlich nicht aufgegeben werden sollte: der selbstbestimmte Mensch. Wobei es grundsätzlich fragwürdig zu sein scheint, wie dieser Mensch, der wir ja sein möchten, sich von einem naturwissenschaftlich begründeten Determinismus noch länger frei halten kann, in den man ihn grade hier wieder leichtfertig und fest einzementieren will.- Die langfristig zu befürchtenden Konsequenzen für eine Gesellschaft, der es gelingt, sich nach Wunsch im genetischen Supermarkt zu bedienen, sind passgenau in der Antiutopie Lee M. Silvers („Remaking Eden: Cloning and Beyond in a Brave New World“, 1998) dargestellt worden. Der Mensch im Jahre 2350 ist wie wir. Die unschlagbare Elternliebe will mit Ehrgeiz das Beste für die Kinder. Für das Wohl des Nachwuchses wird eben mal am Genom gebastelt. Es entwickeln sich mit der Zeit zwei Klassen, eine die sich die genetische Veränderung leisten kann und eine, die „natürlich“ bleibt. Die weiteren Folgen sind absehbar, wenn man bedenkt,dass man in dieser Gesellschaft Kapital auf direktem Wege in Humankapital wandelt, und zwar mittels Laborbesteck und Kopfgeburt.

Höheres Wissen und höhere Weisheit, wie Platon meint, weil man sich besonders gut an die ewigen Ideen erinnert, das war einmal. Teleologisch gesteuerte Entwicklung des Menschen, wissend, wohin die Reise gehen soll, ist als Konzept ebenso obsolet. Und ein stromlinienförmiges Paradigma von wenig Zufall und viel Notwendigkeit wird es nicht geben. Schließlich, der Basisgedanke selbst, dass die Natur die Kultur determiniert, wie der materialistische Monist annimmt, muss so nicht stimmen. Es wird gerade von naturwissenschaftlicher Seite betont, dass wir über diese Dinge noch nicht genug wissen. Die Erforschung schwerer Aggression, auch in Form sexueller Delinquenz, hebt die Bedeutung des Lernens verhängnisvoller Strukturen hervor und entkoppelt die Ursachen dieser Gräuel, die uns mit Sloterdejk entsetzen, vom eindeutig Genetischen. Es ist nicht der ausschlaggebende Ansatz für Verstehen und Veränderung. Das Basteln am Genom ist nicht die Lösung.

Utopien sind Bekenntnisse und gestaltete Hoffnungen auf eine bessere Zeit. Wirklichkeitssinn, wenn er von außen an sie herangetragen wird, ist nicht ihre Richtschnur und kann daher auch nicht ihr Manko sein. Plausibel und konsistent in ihrem Rahmen wollen sie aber schon sein, sich vom Märchen unterscheidend.

Bekenntnisse kann man nicht widerlegen. Das gilt auch für Küngs „Weltethos“ wie für Sloterdejks „Anthropotechnologie“. Beide aber extrapolieren eng von der Wirklichkeit weg. Umso gravierender sind da Mängel in Gestalt nicht haltbarer naturwissenschaftlicher Annahmen und Defizite in der Konsistenz mancher Folgerungen. Was sie allerdings auszeichnet, ist die angestrengte Suche und besorgte Hoffnung, das zu finden, was den Menschen besser macht. Mit „Hirngespinst“ übersetzen manche Lexika das Wort „Utopie“. Die hier vorliegenden Utopien umspinnen wortreich, gedankenvoll und exhaustiv, wie der sich gibt, der sich seiner Sache nicht ganz sicher ist, den immer schon erkannten Rohbau-Charakter des Menschen. Wenn es in früheren Utopien hieß, es muss besser werden, heißt es jetzt, wir müssen besser werden. Weil dieses Muss so radikal empfunden wird, geht es in diesen Utopien mit entschlossenem Einsatz auf Biegen und Brechen. - Und wie werden sie vom Leser aufgenommen? Sie unterliegen dem Rezeptionsschicksal, auf nicht einmal besonders unterhaltsame Weise zu enttäuschen. Ihre besten Pläne und Absichten werden nämlich als nur utopisch erkannt. - Antiutopien hingegen, das sei angemerkt, sind meist spannend. Der Leser begreift: Die hier dargestellte schlechte Welt ist interessant, aber zum Glück utopisch. Und gruselnd hofft er, dass sie utopisch bleibt.

Die Postmoderne rückt ab von der „Obsession der Totalität“, so bei Jean-Francois Lyotard, und damit von jeder holistischen Konzeption von Utopie. Sie findet sie im Partikularen, auf dem Weg zum „Nirgendwohin“, so bei Gianni Vattimo, denn der postmoderne Mensch lebt mit dem Gedanken an die Ziellosigkeit, die seine einzige sichere Bestimmung ist. Die Sorge, energisches Motiv für die früheren Utopieentwürfe, verflüchtigt sich im „Mach dir keine Sorgen. Sei glücklich. “ „Don't worry be happy“ - Schon 1891 hat André Gide in seinem „Le Traité du Narcisse“ einen Narziss auf das Paradies verzichten lassen, dessen Selbstverliebtheit ihn dazu bringt, aktiv zu handeln, um sich in dem, was er tut, wiederzufinden, zu spiegeln. Gide bietet uns Narziss wiederum als Identifikationsfigur an, als Aufforderung, das Leben aktiv und auch mit hohem Einsatz zu leben. Er zieht das Disharmonische dem Harmonischen vor. Er will, allerdings unter Anrufung des Teufels, sein eigenes Leben in die Waagschale werfen „denn es ist schließlich Sklaverei, wenn man nicht eine Bewegung riskiert, ohne die ganze Harmonie zu zerstören. - Und nun, was soll’s! Diese Harmonie geht mir auf die Nerven, und ihr immer vollkommener Gleichklang. Eine Bewegung! Eine kleine Bewegung, nur um zu wissen - eine Dissonanz, zum Teufel! He! Los! Ein wenig Unsicherheit. “ In diesem Paradies herrscht keine frei gewählte Eudämonie. Utopien arrangieren die Wirklichkeit für ihre Bewohner in einer Weise, die es erlaubt, von einem geplanten Glück zu sprechen. Die ewige Harmonie, von außen betrachtet, ist kristalline Erstarrung. Aber auch bei Gides Narziss, der nur die Innenansicht kennt, löst sie Fluchtreflexe aus, Flucht in die Unsicherheit und das Wagnis eines Lebens, dessen Chancen verlockender sind . - Diese hochgespannte voluntaristische Einstellung setzt allerdings voraus, dass die Befriedigung primärer Bedürfnisse wie Hunger und Durst als erfüllt gedacht wird. Da bleibt also eine Frage offen, die nur der Dichter ignorieren darf, der ja nicht zu verpflichten ist, auch das Praktische zu bedenken.

Allen Utopien gemeinsam ist ein Glücksversprechen. Glück allein braucht keine Utopie, es findet seinen Himmel auf Erden. Aber Utopia braucht das Glück seiner Bewohner. Ihrer meist stationären Wirtschaft und Gesellschaft entspricht eine stabile Stimmungslage. Sie ist eben in der Harmonie ausgedrückt, vor der der Utopie-Verächter Gides die Flucht ergreift. -